„Zu hause ist, wo das Boot ist“

Es gibt Kinder, die verbringen ihr Leben auf See. Roxanne ist so ein Mädchen. Die Mutter erzählt uns ihre Geschichte

An diesem Tag, in diesen Breitengraden, ist der Atlantik von einem Blau, wie es sich schöner nicht denken lässt. „Wie Satin“, murmele ich, „oder wie die Schwanzfedern eines Pfaus.“ „Noch viel besser“, sagt Roxanne, „aber du hast mir immer noch nicht gesagt, welche Farbe ich nehmen soll.“

Die „Mollymawk“ senkt ihr Deck, als eine größere Welle unter ihr durchrollt. Ihre hohen, dreieckigen Segel schwenken im Gleichtakt vor dem Himmel hin und her. Ich schaue auf den Aquarellblock auf Roxannes Knien. Im Augenblick scheint es hier in dieser blauen Wüste nur unser kleines Boot zu geben; dabei schwimmen weit unter uns, unter dem Kiel der „Mollymawk“, Fische, Wale und wer weiß was alles. Vor einer halben Stunde statteten uns einige andere Seereisende einen Besuch ab. Eine Gruppe Atlantischer Fleckendelfine umschwärmte unseren Bug, und die hat Roxanne gezeichnet.

Jetzt muss sie entscheiden, welche Farben sie für ihr Kunstwerk wählen soll. „Ultramarin?“, fragt sie. Ich vermute, dass ein Kind seine Mutter oft um Rat fragt, aber in unserem Fall gibt es besondere Gründe dafür. Zum einen bin ich Künstlerin, und was vielleicht noch wichtiger ist: Ich bin auch Roxannes Lehrerin, die einzige, die sie je gehabt hat.

Roxanne wurde vor 14 Jahren an Bord unserer Yacht geboren, und wie ihr älterer Bruder Caesar und ihre ältere Schwester Xoë hat sie ihr Leben damit verbracht, von Land zu Land und über die Ozeane zu reisen. Wenn man sie fragt, woher sie kommen, dann antworten die Kinder: „Aus England.“ Aber Caesar und Xoë kamen in der Karibik zur Welt, und Roxanne verließ England, als sie zwei Wochen alt war.

Die drei halten England nicht wirklich für ihr Zuhause. Zu Hause ist, wo sich das Boot gerade befindet, aber das kann man Fremden nur schwer erklären. Keines der drei Kinder hat je in einem Haus gewohnt. Keines von ihnen könnte den Namen eines Filmstars oder Fußballers nennen. Sie wissen nichts über Designerklamotten, gefeierte Popstars oder Fernsehsendungen. Keiner hat länger als zwei Wochen probeweise eine Schule besucht.

Die Schulbildung meiner Kinder unterscheidet sich sehr von der anderer europäischer Jugendlicher. Auch ihre Einstellung zum Leben ähnelt kaum der von Gleichaltrigen. Sie sind eher Weltbürger als Bürger einer Nation.

Es gibt viele Paare, die ein paar Jahre auf Segelbooten verbringen. Die Route um die Welt ist inzwischen erprobt, und solche Reisen sind nichts Ungewöhnliches mehr. Für die meisten stellt eine solche Expedition jedoch ein einmaliges Abenteuer dar. Ist der Törn beendet, dann fahren sie nach Hause und setzen ihr normales Leben fort. Für die Crew der „Mollymawk“, für meinen Mann Nick und mich und unsere Kinder, ist es anders. Für uns ist das Segelabenteuer das Leben.

Wie kamen wir dazu, dieses Leben zu wählen? Das ist immer die erste Frage an uns. Es begann damit, dass Nicks Vater in Rente ging und beschloss, um die Welt zu segeln. Bis dahin war die Familie immer nur im Ärmelkanal gesegelt, aber irgendetwas inspirierte ihn, den Blick gen Horizont zu richten. Nicks Mutter begleitete ihn aus Pflichtbewusstsein, aber Nick war überglücklich, Teil der Crew zu sein.

Nach Ende der Reise wollte Nick nicht mehr nach London in sein normales Leben zurückkehren. Sein einziger Wunsch war es, die Ozeane zu überqueren. Er begann, Yachten von Frankreich in die Karibik und in pazifische Länder zu überführen. Er ist ein talentierter Mechaniker und kann alle möglichen Geräte reparieren. So einem geht nie die Arbeit aus.

Was mich betrifft: Ich bin mit Booten aufgewachsen, und ich dachte schon immer nur ans Segeln und ans Meer. Selbst als Teenager waren mir Shantys lieber als Popsongs. Mein Lieblingskleidungsstück war eine Seemannsjacke. Als ich von zu Hause auszog, zog ich auf ein Boot, aber ich wusste noch nicht, dass man sein Leben tatsächlich damit verbringen kann, nach Lust und Laune über die Ozeane zu fahren und von einem fremden Land ins nächste zu reisen. Diese Einsicht gewann ich erst, als ich das erste Mal den Atlantik überquerte. Ich half dabei, eine nagelneue Yacht auf die Virgin Islands

zu überführen. Der Skipper war ein gut gelaunter Seebär mit einem verschmitzten Augenzwinkern, und der Rest ist, wie man zu sagen pflegt, Geschichte. Seit über 20 Jahren führe ich nun schon dieses Leben.

Von Anfang an war mir klar, dass dieser Cruising-Lifestyle für Kinder wunderbar sein muss. Statt in einem Vorort mit Fernseher und Autoabgasen aufzuwachsen, würden sie ihre Zeit in einer wunderbaren Umgebung verbringen, sie würden Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturen begegnen und ihre Lungen mit der sauberen Seeluft füllen. Wie es sich zeigen sollte, traf dieser Traum im Großen und Ganzen zu.

Ich will nicht behaupten, dass dieses Leben an Bord nicht auch seine Nachteile hätte. Babys und Kleinkinder müssen ständig betreut werden, und diese Betreuung kann in der Cruising-Family nur durch Mutter und Vater erfolgen. Es gibt keine Schwestern oder Großmütter und auch keine Babysitter und Kindergärten, die einen entlasten könnten. Zwei kleine Kinder zu betreuen und mitzuhelfen, ein Boot zu segeln, war zweifellos das Anstrengendste, was ich je in meinem Leben unternommen habe. Aber als die Kids allmählich ihren Windeln entwuchsen und sich ihre Nase selbst putzen konnten, wurde alles einfacher.

Als die beiden älteren drei und fünf Jahre alt waren, lebten wir unseren Traum. Sie hatten bereits Ozeane überquert und die Fontänen der Wale gesehen. Sie hatten schwimmen gelernt, waren auf unbewohnten Inseln herumgestiefelt und hatten frisch gefangenen, am Strand gegrillten Fisch gegessen. Sie waren im Wald Affen von Angesicht zu Angesicht begegnet und hatten ein Krokodil hinter unserem Beiboot herschwimmen sehen.

Muslimische Schüler hatten sie auf ihre schmalen Schultern genommen, Frauen in Baströcken auf ihre breiten Hüften. Sie waren hinter einem Pinguintrupp marschiert und hatten Albatrosse an unserem Boot vorbeisegeln sehen. Sie hatten das Innere afrikanischer Lehmhütten, spanischer Bars, unterirdischer Höhlen und einer portugiesischen Kapelle gesehen, die mit Schädeln ausgekleidet war.

Aber es gab auch weniger schöne Abenteuer. Als wir einmal mit unserer Yacht Schiffbruch erlitten, mussten die Kinder das Innere eines Rettungshubschraubers kennenlernen.

Mit das Wichtigste am Cruising-Lifestyle ist Unabhängigkeit. Aber die ist eine zweischneidige Angelegenheit. Einerseits muss man sich mitten auf dem Ozean um keinerlei kleinliche Vorschriften oder Gepflogenheiten kümmern. Es gibt dort keine ungeschriebenen Gesetze. Wir fahren, wohin wir wollen, wir können nackt auf dem Deck tanzen, mit den Sternen reden und Led Zeppelin so laut und so oft hören, wie wir wollen. Auf dem Ozean gibt es niemanden, der uns für ungesellig oder

exzentrisch halten könnte. Wenn man allerdings in Schwierigkeiten gerät, gibt es auch keinen, der einem beisteht.

Während sich die meisten Menschen in der westlichen Welt auf ein Netzwerk von Dienstleistungen verlassen können, das sie etwa mit Elektrizität, Wasser, Ärzten und Feuerwehr versorgt, müssen Seeleute die Verantwortung für jeden Aspekt ihres Lebens selbst übernehmen. Wenn wir Anker lichten und den Gestaden Lebewohl sagen, dann sehen wir uns mit anspruchsvollen Aufgaben konfrontiert. Vielleicht müssen wir uns mit einem kaputten Motor oder zerrissenen Segeln herumschlagen, oder vielleicht passiert noch etwas Schlimmeres.

Meist stellen die Herausforderungen etwas Positives dar. Mit Schwierigkeiten fertigzuwerden und zu sehen, dass wir uns auf uns selbst verlassen können, macht uns emotional stärker. Ich glaube auch, dass Kinder davon profitieren, in einem Umfeld aufzuwachsen, in dem Leute ihre Probleme selbst lösen, aber es gibt auch Zeiten, in denen die Herausforderungen zu groß sind und man dringend Hilfe benötigt. Wir hatten das Glück, uns in der Nähe einer Royal-Air-Force-Station auf den Falklandinseln zu befinden, als unser Boot von einer Monsterwelle getroffen wurde und kenterte.

In diesem Zusammenhang sei ein interessanter Aspekt erwähnt: Der Umstand, dass uns der Hubschrauber vom Deck unserer manövrierunfähigen Yacht aufgelesen hatte, sorgte für Schlagzeilen in der englischen Presse, aber nur, weil zwei kleine Kinder in Gefahr geraten und gerettet worden waren. Wenn dieselben zwei Kinder bei einem Autounfall ums Leben gekommen wären, dann wäre das kaum eine Meldung wert gewesen. Wenn wir uns allein auf den Weg machen und die Verantwortung für unser eigenes Leben und für das unserer Kinder übernehmen, dann verschwinden wir von der Bildfläche. Wenn aber alles schiefgeht, finden wir uns plötzlich im Zentrum des öffentlichen Interesses wieder.

„Wie können Sie es wagen, das Leben Ihrer kleinen Kinder aufs Spiel zu setzen?“, kreischt die Öffentlichkeit. Darauf antworten wir: „Zumindest treiben sie sich nicht auf den Straßen herum, gehen nicht zu McDonald’s, schauen nicht stundenlang fern und bekommen keine Gehirnhautentzündung.“


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 88. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 88

No. 88Oktober / November 2011

Von Jill Dickin Schinas und Anja Lehmann

Jill Dickin Schinas, geboren 1959, arbeitet nicht nur als Künstlerin, sondern auch als Autorin. Sie schreibt vor allem für englischsprachige Zeitungen und Magazine, um das Leben auf der „Mollymawk“ zu finanzieren. 2005 erschien ihr Buch „Kids in the Cockpit“, ein Ratgeber für das Segeln mit Kindern.

Der Aufenthalt an Bord der Yacht hat der Berliner Fotografin Anja Lehmann, Jahrgang 1970, nicht gutgetan. Zurück an Land, schaukelte alles. Eine Woche lang hielten die Schwindelgefühle an.

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Vita Jill Dickin Schinas, geboren 1959, arbeitet nicht nur als Künstlerin, sondern auch als Autorin. Sie schreibt vor allem für englischsprachige Zeitungen und Magazine, um das Leben auf der „Mollymawk“ zu finanzieren. 2005 erschien ihr Buch „Kids in the Cockpit“, ein Ratgeber für das Segeln mit Kindern.

Der Aufenthalt an Bord der Yacht hat der Berliner Fotografin Anja Lehmann, Jahrgang 1970, nicht gutgetan. Zurück an Land, schaukelte alles. Eine Woche lang hielten die Schwindelgefühle an.
Person Von Jill Dickin Schinas und Anja Lehmann
Vita Jill Dickin Schinas, geboren 1959, arbeitet nicht nur als Künstlerin, sondern auch als Autorin. Sie schreibt vor allem für englischsprachige Zeitungen und Magazine, um das Leben auf der „Mollymawk“ zu finanzieren. 2005 erschien ihr Buch „Kids in the Cockpit“, ein Ratgeber für das Segeln mit Kindern.

Der Aufenthalt an Bord der Yacht hat der Berliner Fotografin Anja Lehmann, Jahrgang 1970, nicht gutgetan. Zurück an Land, schaukelte alles. Eine Woche lang hielten die Schwindelgefühle an.
Person Von Jill Dickin Schinas und Anja Lehmann