Wörter machen Leute

In aller Welt scheinen die Kreolsprachen, die durch Kontakte zweier Sprachen in der Kolonialzeit entstanden sind, auf dem Rückzug. Auf den Niederländischen Antillen aber ist das lokale Papiamentu quer durch alle Bevölkerungsschichten lebendiger denn je

An dem Tag, als das Wasser kam, versanken Elis Juliana, Luis Daal und Pierre Lauffer in den Fluten. „Alle meine geliebten Autoren habe ich verloren“, sagt die Übersetzerin Lucille Berry-Haseth. Ein Tropensturm hatte im Herbst 2010 das Meer auf Curaçao regnen lassen, das Wasser rauschte durch die Straßen, drang in ihr Haus, spülte durch Schränke, Regale, das Klavier und ertränkte die Werke der wichtigsten Dichter der Insel. „Das waren wilde Wasser.“ Den materiellen Schaden versucht Berry-Haseth wegzuwischen, mit einem Sprichwort in ihrer Muttersprache, Papiamentu: „Hende por nabegá ku poko bientu“, man kann auch mit wenig Wind segeln.

Das wichtigste Schriftstück hatte die ältere Dame zum Glück ganz oben auf ein Regal geschoben. Jetzt liegt der Aktenordner mit den 376 Seiten vor ihr auf dem Tisch im Patio: „Changá“, der bekannteste Roman eines Sohnes der Karibikinsel, fast fertig übersetzt. Geschrieben hat ihn Frank Martinus 1973 unter dem Titel „Dubbelspel“, auf Niederländisch, in den Niederlanden, der ehemaligen Kolonialmacht. Fast 40 Jahre später soll er endlich in der Sprache der Insel, auf der er spielt, erscheinen, auf Papiamentu.

Diese Mischung aus Spanisch, Portugiesisch und ein wenig Niederländisch ist ein Phänomen. Mitte des 17. Jahrhunderts entstanden, ist die Sprache heute so lebendig wie nie zuvor. Während andere Kreolsprachen vom Aussterben bedroht sind, beherrscht Papiamentu das Leben auf Curaçao und den beiden Nachbarinseln Aruba und Bonaire. Die „ABC-Inseln“ liegen vor der Küste Venezuelas. Curaçao, ein schmaler Landstreifen von 60 Kilometer Länge, ist die größte der drei. Fast alle der gut 140 000 Einwohner leben in der Hauptstadt Willemstad, die meisten von ihnen sind Nachkommen europäischer Siedler und afrikanischer Sklaven. Außerdem haben sich Einwanderer aus den Niederlanden, Lateinamerika und Asien, besonders China, auf der Insel angesiedelt.

 

 

Sieben Zeitungen erscheinen auf Curaçao in Papiamentu, 20 Radiostationen senden in der Sprache, ebenso zwei Fernsehsender, die auch von den zahlreichen Auswanderern in den Niederlanden empfangen werden. Mittlerweile pflegt man in allen Bevölkerungsschichten das Papiamentu, insgesamt gibt es rund 330 000 Sprecher. Papiamentu ist neben Niederländisch und Englisch Amtssprache auf der Insel, sogar etliche Niederländer lernen es. Wer es nicht tut, gehört schlicht nicht dazu. „Von den etwa 80 Kreolsprachen weltweit sind nur ganz wenige ähnlich stark“, sagt Bart Jacobs, Linguist an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Diese außergewöhnliche Vitalität hat die Sprachforscher neugierig gemacht, sie versuchen, das Geheimnis des Papiamentu zu ergründen.

Den Menschen auf Curaçao kommt die Sprache allerdings überhaupt nicht geheimnisvoll vor. Papiamentu ist ihre Muttersprache, auch wenn die meisten außerdem Niederländisch, Englisch und Spanisch sprechen. Es ist die Sprache, die den Alltag der Insel ölt. Man hört sie abends in der Snackbar, wo ein chinesischer Wirt die Biere über die Theke schiebt, man hört sie nachts im „Club Boneriano“, wo Paare eng umschlungen unterm Sternenhimmel kubanischen Son montuno tanzen und in den Pausen flüstern und flirten, und man hört sie mittags in der Plasa Bieu, der alten Markthalle, wo Köchin Yvonne das Maismehl in einem riesigen Topf über dem Holzkohlefeuer zu „funchi“ rührt, einer Art Polenta.

Papiamentu klingt so, als würden Kieselsteine unkontrolliert einen Hang hinunterrollen. Einige überschlagen sich, überholen andere, springen weiter. Ganz ähnlich ist auch die Musik der Insel, Tambú, dieses rasende, rollende Durcheinander von Trommeln und Triangelgeklimper.

„Dos Kara“, der Hit der einheimischen Band Aya i Su Grupo, dringt aus einem kleinen Geschäft mitten in der Altstadt von Willemstad. Ohne die tönende Musik wäre der Laden leicht zu übersehen, schmutzig-weiß ist das Haus, selbst die rote Markise leuchtet kaum noch, ausgebleicht von der Sonne. Doch hinter der unscheinbaren Fassade verbirgt sich der älteste Plattenladen Curaçaos.

Hinter der Theke steht Noel Job, schwarze Basecap, schwere Goldringe, auf dem rechten Arm ein Tattoo: „Born to die – 10-08-1981“. Sein Großvater hat das Geschäft „Tik Tak“ vor 48 Jahren gegründet. „Hier, die verkaufen sich gerade am besten, Dreams und Tsunami“, sagt Job und legt die CD der Dreams ein, einer Band aus Curaçao.

Sein Vater kommt dazu, auch er arbeitet im Familienunternehmen, er dreht den Salsa-Merengue-Mix noch lauter. „Wir verkaufen natürlich auch internationale Musik, das ist mehr geworden“, schreit er. „Lokale Sachen wie Tambú werden besonders vor den Feiertagen gekauft, Weihnachten und Karneval.“ „Und von Touristen“, ergänzt sein Sohn. Ob er helfen könne, fragt er jetzt die beiden blonden Frauen, die unschlüssig vor der Auswahl stehen, offenbar Touristinnen aus den Niederlanden. „Nee“, sagen die kurz angebunden, und dann, wie zur Wiedergutmachung: „Danki.“ Das ist Papiamentu.

„Danki“ sagt auch der Präsident des Parlaments von Curaçao, wenn ein Abgeordneter seine Rede beendet hat. Die Gesetzgeber tagen nur ein paar hundert Meter vom Plattenladen der Jobs entfernt. Seit 1958 diskutieren die Abgeordneten auf Papiamentu, vier Jahre zuvor hatte Curaçao die Selbstverwaltung erlangt. Neulich etwa stand zur Debatte, ob die Insel ein eigenes Olympisches Komitee bekommen soll oder nicht.

Die Frage liegt durchaus auf der Hand. Schließlich wurde am 10. Oktober 2010 der Landesverband der Niederländischen Antillen aufgelöst. Seitdem ist Curaçao ein eigenständiges Land im Niederländischen Königreich. Manche Politiker aber verlangen noch mehr Autonomie, etwa der Chef der Partei Pueblo Soberano, Helmin Wiels. Er würde Curaçao gerne ganz von den Niederlanden lösen und zugleich Niederländisch als Amtssprache abschaffen. „Das ist so tot wie Altgriechisch oder Latein“, sagt Wiels. Tatsächlich wird Niederländisch vor allem bei offiziellen Anlässen gesprochen und, eher widerwillig, wenn Niederländer die Sprache der Einheimischen nicht verstehen.

Wie war es möglich, dass die Kreolsprache die Hochsprache der niederländischen Kolonialmacht derart überrollte? Um das zu verstehen, muss man auf die Ursprünge der Sprache zurückblicken. Unter Linguisten gibt es zwei Theorien: Die einen sind der Ansicht, die Entwicklung von Papiamentu habe auf Curaçao selbst stattgefunden. Die anderen meinen, afrikanische Sklaven hätten eine Vorform der Sprache von den Kapverdischen Inseln mitgebracht. „Das ist auch eine ideologische Frage“, sagt Sprachwissenschaftler Jacobs. „Die Einheimischen wollen gerne glauben, dass Papiamentu auf ihrer Insel entstanden ist.“

Stimmt die Theorie der Einheimischen, ist die Entstehung der Sprache jüdischen Händlern zu verdanken. Im 17. Jahrhundert eröffneten sie dort, wo sich das Karibische Meer ins Innere der Insel drängt und eine Bucht, das Schottegat, formt, ihre Geschäfte – schmale, hohe Häuser, bis heute erhalten, die sich an der Handelskade von Willemstad aufreihen, manche mit verzierten Giebeln, andere mit Säulen, in Pink, Mintgrün, Hellblau.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 89. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 89

No. 89Dezember 2011 / Januar 2012

Von Stefanie Schramm und Clémence de Limburg

Dass in der Karibik getanzt wird, hatte Stefanie Schramm, Jahrgang 1978, Wissenschaftsjournalistin in Hamburg, erwartet. Nicht aber, dass sie ausgerechnet auf Curaçao den Tango Argentino entdecken würde. Sie nahm ihn mit nach Hause und ist mittlerweile begeisterte Tangotänzerin.

Wenn Clémence de Limburg, geboren 1980, belgische Fotografin in New York, an ihre Curaçao-Reise zurückdenkt, hat sie zwiespältige Gefühle. Einerseits war sie fasziniert von der karibischen Stimmung der Insel, andererseits erkrankte sie dort an Denguefieber. Zum Glück ist sie wieder komplett genesen.

Mehr Informationen
Vita Dass in der Karibik getanzt wird, hatte Stefanie Schramm, Jahrgang 1978, Wissenschaftsjournalistin in Hamburg, erwartet. Nicht aber, dass sie ausgerechnet auf Curaçao den Tango Argentino entdecken würde. Sie nahm ihn mit nach Hause und ist mittlerweile begeisterte Tangotänzerin.

Wenn Clémence de Limburg, geboren 1980, belgische Fotografin in New York, an ihre Curaçao-Reise zurückdenkt, hat sie zwiespältige Gefühle. Einerseits war sie fasziniert von der karibischen Stimmung der Insel, andererseits erkrankte sie dort an Denguefieber. Zum Glück ist sie wieder komplett genesen.
Person Von Stefanie Schramm und Clémence de Limburg
Vita Dass in der Karibik getanzt wird, hatte Stefanie Schramm, Jahrgang 1978, Wissenschaftsjournalistin in Hamburg, erwartet. Nicht aber, dass sie ausgerechnet auf Curaçao den Tango Argentino entdecken würde. Sie nahm ihn mit nach Hause und ist mittlerweile begeisterte Tangotänzerin.

Wenn Clémence de Limburg, geboren 1980, belgische Fotografin in New York, an ihre Curaçao-Reise zurückdenkt, hat sie zwiespältige Gefühle. Einerseits war sie fasziniert von der karibischen Stimmung der Insel, andererseits erkrankte sie dort an Denguefieber. Zum Glück ist sie wieder komplett genesen.
Person Von Stefanie Schramm und Clémence de Limburg