Wir stehen, aber wir frösteln

Die Pandemie hat uns verändert. Der französische Dichterphilosoph Albert Camus kannte sich mit derlei Zumutungen aus

Die Ostsee zeigt sich heute von der grauen Seite. Der Nordostwind wühlt das Wasser auf, er geht auflandig, und auf den Wellen bilden sich Schaumkronen. Es ist kalt. So kalt wie der Wind ist das Leben in dieser Zeit. Liegt es daran, dass wir es nicht mehr gewohnt sind zu feiern, oder haben wir es uns verboten zu genießen? Wo ist die Leichtigkeit, mit der wir durch das Leben gehen sollten? Ist die Sehnsucht nach der Revolte im Konsum ertränkt, das Smartphone die Powerbank ­unseres Lebens? Wo leben wir die Einheit mit der Natur, die sich in ihrer ganzen Schönheit und ihrer Bedrohung im Meer spiegelt?

Wir sehen die Sonne, fühlen den Wind, hören das Wasser und spüren den Regen und können doch nicht lesen. Stattdessen sind wir auf der Jagd oder auf der Flucht, je nachdem, wie man es nimmt. Wir jagen nach dem Vielleicht und flüchten vor uns selbst oder vor den Schatten der Nacht. Die Angst macht sich breit, ­etwas zu verpassen oder, noch schlimmer, nicht gesehen zu werden oder, am schlimmsten, ganz unterzugehen. Während wir ­gesehen werden sollen, sehen wir nicht mehr. Während wir die Aufmerksamkeit suchen, kommt uns die Fähigkeit, aufmerksam zu sein, abhanden. Auch wenn wir nicht gesehen werden wollen, ist da eine Angst, die uns unfrei macht, weil wir uns nicht trauen, uns selbst anzuschauen und zu leben. Diese Angst verdunkelt die Sonne. Eine dunkle Sonne wärmt und erleuchtet nicht. 

Albert Camus war auf der Suche nach dem Licht und der Schönheit. Geboren in einem Land, das sein Zuhause war, aber keine Heimat bieten konnte. Geboren in einer Stadt, deren Name eng verbunden ist mit dem heiligen Augustinus, der in Geist- und Sinnenwelt unterschied, der Mensch dazwischen, so wie ­Camus, der sein Leben lang zwischen Geist und Sinn suchte. Ein Wunder, dass er seine Abschlussarbeit an der Universität unter anderem über Augustinus schrieb? Die Eltern waren Siedler in ­Algerien, der Vater starb im Ersten Weltkrieg, als Albert ein Jahr alt war und die ­Mutter mit den Kindern zur Großmutter nach Algier zog. 

So verging die Kindheit in einer Stadt am Meer. Doch Algerien sollte nicht das Zuhause bleiben, wenn Camus das Land auch ­lebenslang in seinem Herzen trug. Er kämpfte für Gerechtigkeit unter den Völkern, gegen Armut und für seine eigene Existenz. Kämpfe sind nie aussichtslos, ja, man muss sich den Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen, der nicht aufgibt. Wer aber nicht aufgibt, lebt in ständiger Unruhe und wird nicht fertig. 

Camus verlässt das Land und das Meer und geht nach Paris.  Im Zweiten Weltkrieg fängt er an zu schreiben, wird Teil der Ré­sistance und schließlich einer der bekanntesten Literaten und Denker Frankreichs. Er ist unbequem, er liebt, er sucht und findet ­einen Ort, etwas ­näher am Meer. Die Unrast des Lebens endet auf einer Schnellstraße im sonnigen Süden, in der Provence, lange ­bevor der Lavendel blühte. Alles, was er sagte und schrieb, war, aus der Enge der Herkunft kommend, geprägt vom weiten Blick über das Wasser auf einen Horizont, der unendlich endlich war. Sein Werk spricht vom Aufbegehren gegen Enge und Endlichkeit.

Er sah auch von der Metropole Paris aus die Verworfenen der weißen Stadt am Meer, Algiers kleine Handwerker, die Tagelöhner, denen oft nicht mehr blieb als der Blick über das Meer, der das Gemüt beruhigt, aber nicht die Zukunft. Über ihren Köpfen die Basilika Unserer Lieben Frau von Afrika. Wer ist lieb, was ist lieb? Und von welchem Gott kündet die Kirche? Da waren die Fremden, denen das Land gehörte und die nur fremd in den ­Augen derer waren, die das Land besetzt hatten. Die aber, die abends auf den Dächern der weißen Stadt saßen und über die Bläue des Meeres blicken, weil ihnen sonst nichts blieb, sie gehörten hierhin. Sie waren nicht fremd und blieben es doch. Auf der anderen Seite des Wassers würden sie ebenso fremd bleiben. 

Camus war auf der anderen Seite des Wassers genauso ein Fremder wie das titelgebende Opfer aus seinem Roman. Auch in ihm spielt das Meer eine Rolle. Doch hier ist das Meer der Grenzraum zwischen Liebe, Leidenschaft und Gleichgültigkeit in der Beziehung zwischen dem Erzähler und Maria sowie der Begegnung mit dem Fremden, dem sinnlosen Mord aus Apathie. Am Meer entscheiden sich Liebe und Distanz, Leben und Tod. 

„Das Meer“ gehörte zu seinen Lieblingswörtern, wie „die Mutter“, „der Sommer“, aber auch „das Elend“. Aus der euro­päischen Nacht führe das mittelmeerische Denken, sagte er und dachte an die mediterranen Anarchisten. Wir denken an die ­Revolte des Gemüts, indem wir aufbegehren gegen Konventionen und Zwänge, die der Zementierung von Gehorsam dienen. Gehorsam, der den Grund nicht kennt, ist wie der Blick aufs graue Meer im Gegenwind. Wir stehen, aber wir frösteln. Solares Denken gibt sich der Sorglosigkeit der Sonne hin. Aber gibt es den Gegensatz, den Camus dachte? 


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mare No. 149

mare No. 149Dezember 2021/ Januar 2022

Von Martin Lätzel

Der Kulturwissenschaftler und Publizist Martin Lätzel, Jahrgang 1970, ist Direktor der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel. Er lehrt als Honorarprofessor an der Fachhoch­schule Kiel. Von seinem Büro im Sartori & ­Berger-Speicher blickt er täglich auf den Hafen und die Förde. Die Aussicht auf das Meer findet er ebenso tröstlich wie das Lesen der Texte von ­Albert Camus. In mare No. 126 schrieb er über die Göttlichkeit des Meeres.

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Vita Der Kulturwissenschaftler und Publizist Martin Lätzel, Jahrgang 1970, ist Direktor der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel. Er lehrt als Honorarprofessor an der Fachhoch­schule Kiel. Von seinem Büro im Sartori & ­Berger-Speicher blickt er täglich auf den Hafen und die Förde. Die Aussicht auf das Meer findet er ebenso tröstlich wie das Lesen der Texte von ­Albert Camus. In mare No. 126 schrieb er über die Göttlichkeit des Meeres.
Person Von Martin Lätzel
Vita Der Kulturwissenschaftler und Publizist Martin Lätzel, Jahrgang 1970, ist Direktor der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel. Er lehrt als Honorarprofessor an der Fachhoch­schule Kiel. Von seinem Büro im Sartori & ­Berger-Speicher blickt er täglich auf den Hafen und die Förde. Die Aussicht auf das Meer findet er ebenso tröstlich wie das Lesen der Texte von ­Albert Camus. In mare No. 126 schrieb er über die Göttlichkeit des Meeres.
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