Wie kommt das Meer ins Gebirge?

Ausgerechnet Sardellen sind die Hauptzutat eines traditionellen Gerichts im Piemont, in der meerfernen Alpenregion Italiens. Ein Restaurantbesitzer weiß die Antwort

Vor zweierlei fürchtete sich der kleine Giorgio aus dem piemontesischen Bergdorf: in einem Bach zu ertrinken. Und vor den Frauen mit ihren Kröpfen. „Wenn ich vom Spielen nach Hause rannte, durch die ­schmalen Gassen, und dann kamen sie mir entgegen: in Schwarz gekleidet, mit schwarzem Kopftuch, und vor sich diese monströsen Fleischlappen, die ihnen vom Hals hingen. Ich wusste nicht, ob ich umkehren oder mich an ihnen vorbeidrücken sollte. Ich musste weinen und fragte meine Familie: Sehe ich auch mal so aus?“ Aber man habe ihn beruhigt. Wir essen genügend Salz, habe es geheißen. Salzmangel, genauer gesagt: Jodmangel führte zu diesen vergrößerten Schilddrüsen, ein Dorf in der Gegend heißt sogar Gozzi, Kropf. „Die armen Frauen“, sagt der 73-Jährige heute.

Salz war wertvoll und teuer, davon zeugen noch die Schilder „Sale e Taba­cchi“ an jenen Läden, die lizenzierte Waren verkaufen durften, eben Salz und Tabak. Und doch gehören ausgerechnet in Salz eingelegte Sardellen zu den Klas­sikern der piemontesischen Küche. Aber wie kamen das Salz und die Sardellen ins meerferne Piemont?

Giorgio Patrone führt seit 44 Jahren mit seiner Frau Lucia Novello das „Ristorante Piemonte da Sciolla“ in Domodossola. Und zu dessen winterlichen Gerichten gehört Bagna Cauda – eine warmige salzige Sardellensauce zum Dippen. 

Giorgio schleppt alte Kochbücher heran. „Im ‚Il cuoco piemontese‘ von 1776 findet sich die Bagna Cauda nicht. Das war ein Buch über die Küche bei Hof, bei den Savoyern. Da hat man das nicht gegessen.“ Savoyen reichte von den Bergen bis ans Meer, umfasste Piemont und Ligurien und Teile des heutigen Frankreichs. Und so räumt Giorgio Patrone mit einer Legende auf. Wegen der hohen Steuer sei Salz geschmuggelt worden, heißt es. Damit es nicht auffiel, habe man auf das Salz in den Fässern eine Schicht Sardellen gelegt. Patrone sagt: „Von welchen Steuern reden wir? Es gehörte ja alles den Savoyern, von Ligurien bis nach Nizza – da gab es keine Grenzen.“

Aber wie kamen nun die Sardellen in die Täler? Fisch wurde getrocknet oder in Salz eingelegt, so fand auch der norwegische Kabeljau, baccalà oder stoccafisso, den Weg in die Berge. Fisch aber war ­teuer, und Geld war rar. Die Piemonter Männer wanderten im Herbst saisonal aus, wurden Kaminkehrer in Mailand oder eben acciugai, Sardellenhändler. Sie fuhren nach Ligurien, kauften Sardellen, zogen die Fässer auf ihren blauen Handkarren durch die Ebenen in die Städte und in die Berge. Im Mairatal nahe Cuneo ist ihnen ein Museum gewidmet, die okzitanische Band Lou Dalfin hat den acciugai ein Lied gewidmet: „Ja mai icì sem arrubats / Sus la terra nos portem la mar“ – Wir sind wieder da / Wir bringen das Meer an Land. 

Die Bagna Cauda wird im südlichen Piemont mit Olivenöl zubereitet, im ­Norden gibt man Butter dazu. Giorgio schwört auf Sardellen aus dem Baskenland, nur die Basken würden das Einsalzen wahrhaft beherrschen. „Nach der Bagna Cauda gab es Koriander und Salbei, wie Kautabak, gegen den Knoblauchgeschmack.“ Und an noch etwas erinnert sich Giorgio: an das Salz der Toten, ein Brauch der Piemonter Alpen­täler. Wer bei einem Todesfall kondolierte, bekam als Dank ein Säckchen Salz. Er habe ein paar „L’eterno riposo“ beten müssen, „Herr, gib ihnen die ewige Ruhe“, dann gab es Essen. Mit Salz. „Salz war so rar und so wichtig. Es war ja fast Medizin. So halfen die Toten den Lebenden.“ 


Bagna Cauda

Zutaten (für vier Personen)
150 g gesalzene Sardellen, 800 g ­gemischtes Gemüse, 50 g Butter, 150 ml Olivenöl aus Ligurien, 150 ml Milch, 2 Löffel frische Sahne, 4 Knoblauchzehen, 150 ml Weißwein.

Zubereitung
Verschiedenes Gemüse nach Wahl wie Kardenstängel, Topinambur, ­Wirsing, Kartoffeln, Blumenkohl, ­Sellerie, Chicorée in mundgerechte Stücke schneiden. Knoblauch eine Stunde in Milch, Sardellen eine Viertelstunde in Weißwein einlegen. Knoblauch waschen, mit den Sardellen in eine Pfanne geben, mit Olivenöl ­bedecken, zehn ­Minuten köcheln. Der Knoblauch darf nicht bräunen. Wenn alles eine breiige Konsistenz hat, weitere zehn Minuten köcheln lassen, die Butter hinzufügen, wieder zehn Minuten köcheln, bedächtig mit einem Holzlöffel umrühren – die Bagna Cauda darf nie kochen. Kurz vor dem Essen die Sahne unterrühren. Die heiße Sardellenpaste wird am Tisch auf einem Stövchen serviert, und man stippt das Gemüse in die Bagna ­Cauda. Dazu reicht man Weißbrot und serviert Rotwein; Giorgio empfiehlt den Prünent Stella seines Sohns ­Edoardo. 

Ristorante Piemonte da Sciolla
Piazza Convenzione, 4, 
28845 Domodossola, Verbano, Italien, Telefon +39/0324/481007.
Geöffnet Mo 19 bis 21, Di 12 bis 14.30, Do bis Sa 12 bis 14.30 und 19 bis 
21 Uhr, Mi und So geschlossen.

mare No. 164

mare No. 164Juni / Juli 2024

Von Barbara Schaefer und Gaia Squarci

Barbara Schaefer schreibt Reportagen und Bücher übers Reisen. Sie studierte nach der Redakteursausbildung Theaterwissenschaft und Germanistik in München, Bologna und Perugia, arbeitete zunächst als Theaterkritikerin in München, zog schon bald für einige Monate an den Gardasee, dann nach Grönland, dann nach New York. Sie reist lieber durch die Welt, anstatt still in einem Zimmer zu sitzen. Die freie Autorin lebt seit 1997 in Berlin, ihre Reportagen erscheinen außer in mare in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, in der Süddeutschen, in GEO-Saison, Spiegel-Special, Fivetonine und in der Brigitte.

Gaia Squarci ist Fotografin und Videofilmerin, die ihre Zeit zwischen Rom und New York City verbringt, wo sie am ICP Digital Storytelling unterrichtet. Gaia ist Mitarbeiterin von Prospekt, IWMF-Stipendiatin und National Geographic-Stipendiatin. Ihre Arbeit konzentriert sich auf Themen, die mit der Beziehung zwischen Mensch und Umwelt, dem Älterwerden und familiären Beziehungen zusammenhängen. Ihr Projekt „Ashes and Autumn Flowers“ wurde 2020 für den Prix Pictet nominiert, und POYi zeichnete sie 2014 und 2017 für ihre Film- und Fotoarbeiten aus.

Mehr Informationen
Vita

Barbara Schaefer schreibt Reportagen und Bücher übers Reisen. Sie studierte nach der Redakteursausbildung Theaterwissenschaft und Germanistik in München, Bologna und Perugia, arbeitete zunächst als Theaterkritikerin in München, zog schon bald für einige Monate an den Gardasee, dann nach Grönland, dann nach New York. Sie reist lieber durch die Welt, anstatt still in einem Zimmer zu sitzen. Die freie Autorin lebt seit 1997 in Berlin, ihre Reportagen erscheinen außer in mare in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, in der Süddeutschen, in GEO-Saison, Spiegel-Special, Fivetonine und in der Brigitte.

Gaia Squarci ist Fotografin und Videofilmerin, die ihre Zeit zwischen Rom und New York City verbringt, wo sie am ICP Digital Storytelling unterrichtet. Gaia ist Mitarbeiterin von Prospekt, IWMF-Stipendiatin und National Geographic-Stipendiatin. Ihre Arbeit konzentriert sich auf Themen, die mit der Beziehung zwischen Mensch und Umwelt, dem Älterwerden und familiären Beziehungen zusammenhängen. Ihr Projekt „Ashes and Autumn Flowers“ wurde 2020 für den Prix Pictet nominiert, und POYi zeichnete sie 2014 und 2017 für ihre Film- und Fotoarbeiten aus.

Person Von Barbara Schaefer und Gaia Squarci
Vita

Barbara Schaefer schreibt Reportagen und Bücher übers Reisen. Sie studierte nach der Redakteursausbildung Theaterwissenschaft und Germanistik in München, Bologna und Perugia, arbeitete zunächst als Theaterkritikerin in München, zog schon bald für einige Monate an den Gardasee, dann nach Grönland, dann nach New York. Sie reist lieber durch die Welt, anstatt still in einem Zimmer zu sitzen. Die freie Autorin lebt seit 1997 in Berlin, ihre Reportagen erscheinen außer in mare in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, in der Süddeutschen, in GEO-Saison, Spiegel-Special, Fivetonine und in der Brigitte.

Gaia Squarci ist Fotografin und Videofilmerin, die ihre Zeit zwischen Rom und New York City verbringt, wo sie am ICP Digital Storytelling unterrichtet. Gaia ist Mitarbeiterin von Prospekt, IWMF-Stipendiatin und National Geographic-Stipendiatin. Ihre Arbeit konzentriert sich auf Themen, die mit der Beziehung zwischen Mensch und Umwelt, dem Älterwerden und familiären Beziehungen zusammenhängen. Ihr Projekt „Ashes and Autumn Flowers“ wurde 2020 für den Prix Pictet nominiert, und POYi zeichnete sie 2014 und 2017 für ihre Film- und Fotoarbeiten aus.

Person Von Barbara Schaefer und Gaia Squarci