Wie eine splitternde Muschel

Der kanadische Maler Alex Colville ist ein Meister seines Genres. Wie kein anderer versteht er es, der Brüchigkeit menschlicher Existenz ein heiteres Antlitz zu geben

Nicht jeder Küstenbewohner, den es in die Weiten des Ozeans hinauszieht, entpuppt sich als ein Odysseus. Und schon gar nicht jeder, der den Herausfahrenden an Land hinterherblickt, als ein Maler. Der Kanadier Alex Colville hat das Beste der beiden Welten aus Stillstand und Bewegung, aus Bleiben und Entdecken in den Motiven seiner Gemälde vereint.

Seine Bildwelt ist ohne das Meer undenkbar. Aus diesem Grund den 87-jährigen Maler als einen Vertreter der maritimen Malerei einzuordnen, wäre jedoch ein Irrtum. Richtig ist, dass es sich bei Alex Colville um einen der bedeutendsten Künstler Kanadas handelt. Man zählt ihn zu den magischen Realisten; er selbst sieht sich der realistischen Tradition Edward Hoppers verpflichtet. In derselben Zurückhaltung, die er um seine eigene Person bewahrt, verbreitete sich sein Œuvre in alle Welt, bis hin zu Orten wie die Tate Gallery in London, das Wallraf-Richartz-Museum in Köln, das Beijing Exhibition Centre in Peking und das Centre Georges Pompidou in Paris. Heute sind die Werke von Alex Colville ebenso begehrt wie selten in der Öffentlichkeit zu sehen. Die meisten verschwinden sofort in privaten Sammlungen.

Fast sämtliche seiner Arbeiten rufen neben Faszination und Neugier auch eine diffuse Beunruhigung beim Betrachter hervor. Das Meer nimmt hierbei eine zentrale Rolle in seinen Gemälden ein. Bei ihm besitzt es etwas Gleichnishaftes zur menschlichen Existenz, mit ihrer ruhigen Oberfläche des Alltags und der tückischen Unterströmung des Unvorhersehbaren. Wenn uns beim sommerlichen Bad die Kühle tieferer Wasserschichten die Zehen frieren lässt, dann nur, weil wir plötzlich spüren, was wir nicht sehen: nämlich die Bodenlosigkeit unter uns.

Woher rührt die symbolhafte Bedeutung des Meeres in Colvilles Gemälden? Schließlich sollte es erst im Übergang seiner Jugend ins Erwachsenenalter an Bedeutung gewinnen, als es ihn hinaustrug, aus Kindheit und Schulzeit in Toronto und später Amherst, Nova Scotia, als Sohn einer Weißwarenhändlerin und eines Stahlarbeiters mit schottischen Vorfahren. Bis es so weit war, stellte das Meer keine Sensation dar. Es war stets präsent, in der Unaufgeregtheit einer selbstverständlichen Dauereinrichtung, etwa als Kulisse von Familienausflügen oder Ferienaufenthalten. Wie sollte es auch anders sein in einer Provinz wie dieser, in der die Küste von keinem Punkt aus weiter als eine Autostunde entfernt ist?

Um seinen Werdegang zu skizzieren, muss Alex Colville nicht auf die Kindheit verweisen. Erster wirklich gravierender Einschnitt war eine schwere Lungenentzündung, die ihn mit acht Jahren mehrere Sommermonate ans Bett fesselte. Die Abgeschlossenheit seines Krankenzimmers lieferte ihn vollends den eigenen Gedanken aus. Während Brüder und Freunde draußen ihre Mutproben bestanden, begann er zu lesen, tauchte ab mit Jules Vernes „20 000 Meilen unter dem Meer“ und entwickelte neben der Liebe zur Literatur eine Fähigkeit, die ihm später ebenso nützlich wie unentbehrlich wurde: die Beschäftigung mit der eigenen Fantasie und ihre Umsetzung in Bilder. Er begann zu zeichnen und zu modellieren. Ein wichtiger Schritt, der ihn Jahre später mithilfe eines Stipendiums in die Malereiklasse der Universität Mount Allison in Sackville, New Brunswick, führen sollte. Bis dahin aber schulte er seinen Blick für kleinste Details.

„Schon früh war ich fasziniert davon, möglichst originalgetreue Modelle herzu-stellen. Ich erinnere mich, wie ich im Alter von 15 Jahren die Hauptstraße meiner Heimatstadt Amherst mit einem Revolver an der Hüfte entlangspazierte und deshalb von einem Polizisten angehalten wurde. Ich muss zugeben, dass mich sein verblüfftes Gesicht freute, als er erst am Gewicht merkte, dass es sich nicht um eine echte Waffe, sondern um ein Stück Holz handelte. Er konnte sich kaum daran sattsehen, so fasziniert war er. Im Rückblick ist es interessant, wie mich derartige Erfahrungen darin bestärkten, auch später etwas zu schaffen, das nicht real ist, aber dennoch vollkommen real erscheint.“

An der Mount Allison University verfestigte sich neben seinen handwerklichen Fähigkeiten auch sein Hang zum Einzelgängerischen. Trotz seiner Beliebtheit schloss er sich nie einer Gruppe an. Stattdessen konzentrierte er sich ganz auf seine Arbeit, und zwar mit demselben Maß an Ernsthaftigkeit wie zuvor als Junge, der niemals einen Lieblingsschlager gesungen oder eine Jeans angezogen hätte – bis zum heutigen Tag nicht, und das, obwohl Alex Colville zu jenen Glücklichen gehört, die, je älter sie werden, umso jugendlicher erscheinen.

Den Sommer vor seinem Universitätsabschluss 1942 verbrachte Colville bei Wirtsleuten in der Prospect Bay, tagsüber am Meer malend und abends Fisch über offenem Feuer bratend. Nur wenige Monate später war er Freiwilliger im Dienst des kanadischen Militärs und im Jahr darauf an Bord einer Fregatte auf dem Weg zu den Kriegsschauplätzen Europas. Seine Aufgabe als jüngster offizieller Kriegsmaler bestand darin, den Alltag der Soldaten möglichst präzise in Skizzen und Gemälden festzuhalten.

Ausgedehnte Fahrten führten ihn über Mittelmeer und Atlantik. Er begleitete die Landung der alliierten Truppen in der Normandie und gelangte mit ihnen über Belgien und Holland bis nach Deutschland. Kurz nach der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen versuchte er das Entsetzen in Aquarellskizzen festzuhalten. Es war der eigentliche Beginn von dem, was er bis heute fortführt: Unaussprechliches in die sichtbare Sprache der Bilder zu übersetzen. Andere wären an Eindrücken wie jenen in Bergen-Belsen zerbrochen. Colville hat sie in Bildern verarbeitet.


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mare No. 67

No. 67April / Mai 2008

Von Andreas Schultz

Andreas Schultz, Jahrgang 1966, lebt und arbeitet in Berlin. Seine Bewunderung für Alex Colvilles Arbeiten begann bereits Mitte der achtziger Jahre in London, als ein Regenschauer ihn dazu zwang, sich unterzustellen – zufällig im Eingang zu jenen Räumlichkeiten, in denen eine Ausstellung Colvilles Bilder präsentierte.

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Vita Andreas Schultz, Jahrgang 1966, lebt und arbeitet in Berlin. Seine Bewunderung für Alex Colvilles Arbeiten begann bereits Mitte der achtziger Jahre in London, als ein Regenschauer ihn dazu zwang, sich unterzustellen – zufällig im Eingang zu jenen Räumlichkeiten, in denen eine Ausstellung Colvilles Bilder präsentierte.
Person Von Andreas Schultz
Vita Andreas Schultz, Jahrgang 1966, lebt und arbeitet in Berlin. Seine Bewunderung für Alex Colvilles Arbeiten begann bereits Mitte der achtziger Jahre in London, als ein Regenschauer ihn dazu zwang, sich unterzustellen – zufällig im Eingang zu jenen Räumlichkeiten, in denen eine Ausstellung Colvilles Bilder präsentierte.
Person Von Andreas Schultz