Weltenbummler

Meeresschildkröten ziehen durch die Ozeane wie Zugvögel durch die Lüfte. Dabei wissen sie offenbar immer genau, wo sie sind. Wieso nur?

Manchmal verspürte Archie Carr, der führende Schildkrötenforscher der sechziger Jahre, heftigen Neid auf die Ornithologen. Besonders jene, die die Rußseeschwalbe studierten, einen Bodenbrüter, der auf demselben einsamen Karibikstrand nistete wie die Suppenschildkröte. Wie gut sie es hatten! Da brüteten und fütterten Seeschwalbenweibchen und männchen wochenlang in Sichtweite, so als legten sie es geradezu darauf an, beobachtet zu werden. Und am Ende war ihr Küken, immer nur ein einziges, übersichtliches Küken, stark genug, um für den Rest seines Lebens einen Metallring am Bein zu tragen.

Was stellte er, Carr, dagegen nicht alles an, um selbst banale Einblicke in den Alltag seiner Schildkröten zu erhaschen! Er band ihnen Luftballons an, um zu sehen, wo sie schwammen. Er schmiedete ihnen, es tat ihnen ja nicht weh, Metallanhänger an den Panzer und zahlte allen Fischern eine Belohnung, die ihm schrieben, wo und wann sie die Tiere erlegt hatten. Er erfuhr auch Interessantes, durchaus. Etwa, dass die unerhörten Fabeln der karibischen Seeleute – in denen die Schildkröten durch die Meere zogen wie Wandervögel durch die Lüfte – tatsächlich stimmten. Seine Anhänger tauchten in Nicaragua, Venezuela und Kolumbien auf! Doch es ließ sich nicht daran rütteln: Beobachten konnte er die Tiere nur zwei Mal in ihrem Leben. Einmal bei der Geburt, wenn der Strand im Mondlicht aufbrach und Tausende von Schildkrötenbabys ausspuckte. Wie aufgezogene Spiel zeugtiere rannten sie über den Sand, verletzliche Wesen mit weichen Panzern, kaum größer als ein Silberdollar. Minutenschnell verschwanden sie im Meer. Erst Jahre später sah er sie wieder, zumindest die Weibchen. Sie waren dann groß wie Esstische und vergruben ihrerseits Eier im Sand. Nie mehr sah er die Männchen, die für immer im Wasser blieben. Und nie sah er Schildkröten aufwachsen. Er wusste nicht einmal, wo das geschah. Jeden Fischer, den er traf, fragte er aus, doch keiner hatte je ein Schildkrötenjunges in seinem Netz gefangen; auch an keinem Strand tauchten sie auf.

Nahezu alles an der Meeresschildkröte ist rätselumwoben, selbst ihr Ursprung. Scheinbar fertig ausgeformt tauchte vor rund 200 Millionen Jahren ein Reptil auf, das seinen Körper verkürzt und – Geniestreich der Evolution – mit einem schützenden Panzer versehen hatte. Manche dieser Kreaturen gingen ins Wasser, andere blieben an Land. 1996 hoben Archäologen in South Dakota das 70 Millionen Jahre alte Skelett einer Archelon ischyros, einer Furcht einflößenden Riesenmeeresschildkröte. Aus ihren Knochen zu schließen, war sie sechs Meter breit, auf ihren Rücken hätte ein Gartenschuppen gepasst. Seit diesen Tagen hat sich die Meeresschildkröte kaum verändert – nur auf weniger einschüchternde Maße.

Meeresschildkröten leben überall, wo die See warm oder tropisch ist. Sie sind fast ausnahmslos Allesfresser und verspeisen, was sie finden: Quallen, Seegras, Plastiktüten, Öltropfen. Forscher debattieren, wie viele Arten es gibt. Unterschieden werden:

• die massige Unechte Karettschildkröte (Caretta caretta), deren Panzer gelegentlich als Paddelboot zweckentfremdet wird. Ihr mächtiger Kiefer kann selbst Hummer knacken;

• die wohlschmeckende Grüne Meeresschildkröte, häufiger jedoch Suppenschildkröte (Chelonia mydas) genannt, die einzige Vegetarierin der Spezies. Unfreiwillig half sie bei der Eroberung der Weltmeere. „Sie war der ideale Reiseproviant“, schreibt Carr, „groß wie eine junge Kuh, leicht zu fangen und zu lagern.“ Matrosen drehten sie einfach auf den Rücken und schoben sie in eine Ecke (gestritten wird, ob auch ihre nahe Verwandte, die schwarze Chelonia agassizii, eine eigenständige Art darstellt);

• die Echte Karettschildkröte (Eretmochelys imbricata), deren Fleisch giftig ist. Sie wird dennoch gejagt – wegen ihres schönen Panzers;

• die Gewöhnliche Bastardschildkröte (Lepidochelys olivacea) und ihre nahe Verwandte,

• die Karibische Bastardschildkröte (Lepidochelys kempii), beide berühmt für ihr ungestümes Massennisten. Oft fallen Tausende legewütiger Weibchen gleichzeitig an bevorzugten Stränden ein, wo sie sich gegenseitig Sand und die Eier ihrer Vorgängerinnen in die Augen schaufeln;

• die Wallriffschildkröte (Natator depressus), erst seit Ende der sechziger Jahre als eigene Rasse anerkannt. Sie ist eine der wenigen Meeresschildkröten, die sich regional einschränken: Sie lebt nur vor der Küste Australiens;

• die Lederschildkröte (Dermochelys coriacea), die größte der modernen Meeresschildkröten. Ein 1991 vor Wales gefangenes Exemplar wog 995 Kilogramm. Als einzige kann sie ihre Körpertemperatur regulieren. So gelingt es ihr, bis auf fröstelige 1200 Meter Tiefe zu tauchen.


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mare No. 41

No. 41Dezember 2003 / Januar 2004

Von Ute Eberle

Ute Eberle, Jahrgang 1972, studierte Anglistik, Spanisch und Politik. Die freie Journalistin lebt im niederländischen Leiden und schreibt unter anderem für Die Zeit und Bild der Wissenschaft.

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Vita Ute Eberle, Jahrgang 1972, studierte Anglistik, Spanisch und Politik. Die freie Journalistin lebt im niederländischen Leiden und schreibt unter anderem für Die Zeit und Bild der Wissenschaft.
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Vita Ute Eberle, Jahrgang 1972, studierte Anglistik, Spanisch und Politik. Die freie Journalistin lebt im niederländischen Leiden und schreibt unter anderem für Die Zeit und Bild der Wissenschaft.
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