Vom Austernwäscher zum Grandseigneur

Wo die Via Appia ans Meer stößt, steht eines der schönsten Fischrestaurants Italiens: „La Tartana“

Am Anfang der Geschichte stehen vier Pfosten und ein Gazedach: Die hatten Mario D’Onotrio und Giovanna Maria Vanno auf den Klippen der Küste gleich hinter Terracina an der Via Appia in den Boden gerammt, und darunter verkauften sie Muscheln, Austern, Tintenfische und was das Meer noch so bietet. „Mario l’Ostricaro“ stand nach einiger Zeit auf einem einfachen Schild, doch Sinn für Ästhetik zeigten die beiden schon damals: Die Austern und Miesmuscheln lagen appetitlich drapiert zwischen aufgeschnittenen Zitronen und grünen Blättern, ständig besprüht mit frischem Meerwasser. Heute ist das Gazedach einer festen Konstruktion gewichen, die Meeresfrüchte sind in drei Etagen-Becken ausgestellt mit kunstvoll darüberprasselnder Fontäne, im Hintergrund schlängeln sich in einem langgezogenen Becken seltene Fische, und unmittelbar neben diesem Straßenverkauf schließt sich das Restaurant „La Tartana“ an. Und da sollte, wer tafeln will, lange vorbestellen: Es hat nur 60 Plätze im Inneren und gut 80 auf der Terrasse über den Meeresklippen.

„Nein“, korrigiert sich Giovanna Maria Vanno, „eigentlich hat es schon früher begonnen, als wir Ende der fünfziger Jahre, jungvermählt und ohne eine Lira – die Eltern waren gegen unsere Heirat – einmal hierher spazierten, an die damals noch vorhandene Quelle ‚Acqua magnesia‘. Da hielten Leute aus Neapel an und fragten, wo man hier Muscheln kaufen könne. Das passierte uns tags danach wieder – und da sagte Mario: ,Das könnten wir doch mal probieren.‘“ So erstanden sie auf dem Großmarkt fünfzig Kilogramm Muscheln – und hatten sie nach einer Stunde verkauft; am nächsten Tag holten sie hundert Kilogramm – und auch die waren im Nu weg. Mario baute einen kleinen Verkaufswagen zum Schieben – und so begann die Geschichte eines der begehrtesten Lokale zwischen Rom und Neapel.

„Bis zu drei Stunden stehen die Leute manchmal an“, sagt Giovanna Maria. Damit sie nicht weglaufen, diese Kunden, kredenzt ihnen Mario draußen am Straßenverkauf schon mal ein paar frische Austern und ein Gläschen Wein.

Doch ganz einfach war dann doch alles wieder nicht: In den siebziger Jahren brach in Neapel die Cholera aus, der Fischverkauf sank rapide, und wer noch weiterarbeiten wollte, mußte einwandfrei funktionierende Säuberungsanlagen vorweisen. Mario und Giovanna Maria bauten diese direkt unterhalb des Verkaufsstands an den Klippen auf, gossen einigen Zement zur Sicherung zu, ließen große Felsbrocken zum Schutz vor dem anbrandenden Wasser ins Meer werfen – und bekamen prompt Schwierigkeiten mit den Behörden, weil derlei ja genehmigt werden mußte. Seither ist Giovanna Maria gar nicht mehr sehr gut auf ihre eigene Gemeinde zu sprechen – „natürlich bediene ich auch Leute aus Terracina, aber ich werbe nicht um sie, meine Stammgäste kommen aus Neapel oder aus Rom, aus Frosinone oder Montecassino.“

Erst Anfang der achtziger Jahre ließ sich die Stadtverwaltung erweichen, gab die Erlaubnis zum Betrieb der Verkaufsstelle und der Reinigungsanlage: Das gab neue Probleme, Umweltschützer wollten die Klippen wieder im alten Zustand sehen. Doch ein einschlägiges Gesetz wurde erst 1983 erlassen, und da stand hier schon fast alles. Zusätzlich hatte Giovanna Maria den Stadträten auch noch eine Lizenz für die Verabreichung von „Probehappen“ aus dem Fischsortiment abgetrotzt. Auf Klappstühlen und -tischen servierten die beiden fortan ihre Köstlichkeiten – „doch das ging so nicht: Die Gäste kamen im Abendkleid hierher, und ich stand da mit meinen Klappstühlen. Das ging so nicht.“ Also beantragte man die Restaurantlizenz, 1983 war es soweit: „La Tartana“ entstand.

Darin herrscht sie nun bis heute, die Giovanna Maria, eine vor Lebenskraft strotzende, mit ihren 56 Jahren noch immer fast ohne Falten gebliebene „Mamma“ mit streng zurückgebundenen Haaren, und bereitet ihre „Gnocchetti con funghi porcini“ oder „Fusilli con zucchini gamberi e cozze“ zu, besonders gerne aber ihre „Davette allo scoglio“: Die Felsenriff-Nudeln sind die Spezialität des Hauses. Gamberi und Scampi werden in Öl und Knoblauch angebräunt, dann kommt etwas Weißwein dazu, und, wenn der verkocht ist, ein Pfund frische Tomaten (für vier Personen) und Petersilie. Schließlich gibt Giovanna Maria Vanno ein Pfund gemischte Muscheln dazu, und wenn diese sich geöffnet haben, wird die Soße mit den inzwischen al dente gekochten Bavette-Nudeln so lange vermischt, bis die Soße etwas angedickt ist; pronto, al tavolo.

Mario seinerseits sitzt nur selten im Lokal. Er ist inzwischen Mitte 60, ergraut und hat einen gepflegten Schnurrbart: In jeden Film könnte er den Grandseigneur der alten Marke hergeben – doch mit feinem Understatement beschränkt er sich wie eh und je auf den Straßenverkauf. Sohn Vincenzo, der früher oft geholfen hat, steht nun nicht mehr zur Verfügung; seit drei Jahren arbeitet er im Untergeschoß des Restaurants, denn da hat er eine der modernsten Muschel-Bearbeitungsanlagen Italiens geschaffen. Acht Stunden werden die Tiere in einem Reinigungsbecken durchspült, wenn sie aus heimischer Produktion sind, zwölf Stunden, wenn sie aus anderen Ländern der EU kommen, 24 die von außerhalb. Ein ansehnlicher Teil geht auf den Markt – doch „wichtiger ist, dass die Leute, die ins Restaurant kommen, auch sehen können, wie ökologisch einwandfrei sie hier bedient werden“, sagt Giovanna Maria. Dazu paßt natürlich auch, dass sie in ihrer Küche „ausschließlich Frischware“ verwendet, nichts Eingefrorenes, keine Dosentomaten. Alles wird extra für den einzelnen Gast zubereitet.

Derlei kostet natürlich: Um die 80000 Lire kommt ein vollständiges Menu für den Gast (ohne Vorspeise oder ohne Nudeln um die 60000) – und das kann sich nicht jeder leisten. Dennoch: Auch viele einfache Leute sparen ab und an zusammen, nur um in der „Tartana“ essen zu können. Und wer nicht so viel zusammenkriegt – der steht oder hockt eben draußen unter dem Dach des Straßenverkaufs bei Mario und schlürft gleichermaßen begeistert die Austern, die dort auch nicht mehr kosten als auf dem Markt.


Ristorante La Tartana – da Mario l’Ostricaro
Via Appia km 102, 700, I-04019 Terracina,
Telefon (0039) 0773 / 70 24 61,
Fax (0039) 0773 / 70 36 56,
Vorbestellung nötig

mare No. 4

No. 4Oktober / November 1997

Von Werner Raith und Eligio Paoni

Werner Raith, 1940 in Regensburg geboren, beschäftigte sich als Schriftsteller, Journalist und Übersetzer mit Italien im Algemeinen und der Mafia im Speziellen. Er starb 2001.

Der italienische Fotograf Eligio Paoni dokumentierte seit den 1980er Jahren Kriege, Konflikte und Ereignisse weltweit. Er starb 2018.

Mehr Informationen
Vita Werner Raith, 1940 in Regensburg geboren, beschäftigte sich als Schriftsteller, Journalist und Übersetzer mit Italien im Algemeinen und der Mafia im Speziellen. Er starb 2001.

Der italienische Fotograf Eligio Paoni dokumentierte seit den 1980er Jahren Kriege, Konflikte und Ereignisse weltweit. Er starb 2018.
Person Von Werner Raith und Eligio Paoni
Vita Werner Raith, 1940 in Regensburg geboren, beschäftigte sich als Schriftsteller, Journalist und Übersetzer mit Italien im Algemeinen und der Mafia im Speziellen. Er starb 2001.

Der italienische Fotograf Eligio Paoni dokumentierte seit den 1980er Jahren Kriege, Konflikte und Ereignisse weltweit. Er starb 2018.
Person Von Werner Raith und Eligio Paoni