Der Rückstoß des Gewehrs wirft die zierliche, nur anderthalb Meter große Frau fast um. Es ist zum ersten Mal in ihrem Leben, dass Ada Blackjack eine Schusswaffe abfeuert. Doch sie hat getroffen. Das Blut der getöteten Möwe färbt den Schnee rot. Ada verarbeitet das Vogelfleisch zu einer Suppe, denn Lorne Knight, der Einzige, mit dem sie noch auf der Insel ist, kann nicht mehr kauen, er hat alle Zähne verloren. Er liegt im Zelt, fabuliert im Fieberwahn vor sich hin, ohne die Pflege der indigenen Iñupiatfrau wäre der an Skorbut erkrankte Knight wohl längst tot. Die anderen drei Teilnehmer der Expedition haben das Notlager auf der Insel Wrangel im ostsibirischen Polarmeer am 28. Januar 1923 verlassen, um übers Packeis zu Fuß und mit Hundeschlitten zum 150 Kilometer entfernten sibirischen Festland zu gelangen und Hilfe zu holen. Sie werden dort nie ankommen und auf ewig verschollen bleiben.
Im Sommer 1921 hatte Ada Blackjack in der Lokalzeitung von Nome, einer Goldgräberstadt an Alaskas Westküste, eine Anzeige gelesen: „Help wanted!“ Der kanadische Polarforscher und Ethnologe Vilhjálmur Stefánsson will Iñupiatleute rekrutieren, damit diese mit ihrem Arktiswissen seine Expedition zur Wrangelinsel begleiten.
Die Mannschaft, die er bisher zusammengestellt hat, setzt sich aus vier unbedarften jungen Männern zusammen, drei US-Amerikaner und ein Kanadier, die mehr Enthusiasmus als Erfahrung aufweisen. Allan Crawford und Milton Galle kommen frisch von der Universität, im hohen Norden waren sie noch nie. Nur Lorne Knight und Fred Maurer kennen sich ein wenig mit dem Bau von Iglus und der Seehundjagd aus, da sie bereits an Stefánssons vorherigen Erkundungsreisen teilgenommen haben.
Der Forscher hat einen zweifelhaften Ruf. Einerseits sind seine Verdienste um die Entdeckung der Arktis unbestritten, andererseits ist er ein Hasardeur und Großmaul. Er hat bereits das Scheitern einer schlecht vorbereiteten Expedition zu verantworten, bei der 1913 das Schiff „Karluk“ sank. Dessen Mannschaft wanderte in einer monatelangen Odyssee übers zugefrorene Meer, elf von 25 Expeditionsteilnehmern ließen ihr Leben. Diese Tragödie hält Stefánsson jedoch nicht davon ab, weiterhin die Arktis zu idealisieren.
In seinen Büchern „My Life With The Eskimo“ und „The Friendly Arctic“ stellt er sie nicht als lebensfeindliche Weltregion dar, sondern als verheißungsvollen Garten Eden, bezähmbar von jedem, der sich ausreichend Mühe gibt. Als charismatischer Vortragsreisender der Chautauqua Institution, einer ambulanten Erwachsenenbildungsinitiative in den ländlichen Gebieten der USA, begeistert Stefánsson mit seinen beschönigenden Erlebnisberichten aus den Polargebieten die Massen. Um zu beweisen, dass die einseitige Nahrung der indigenen Urbevölkerung der Arktis zu keinen Mangelerscheinungen führt, wagt er ein spektakuläres medizinisches Experiment, indem er sich ein Jahr lang nur von Fleisch und Fisch ernährt.
Genauso blauäugig stellt sich Stefánsson die Besiedlung von Wrangel vor, der „großartigen Wildnis in unberührter Frische“, wie der Naturforscher John Muir 1881 sie begeistert beschrieb. Stefánssons Ziel ist es, das unbewohnte Eiland, das etwas kleiner als Korsika ist und einst vom deutsch-baltischen Marineoffizier Ferdinand von Wrangel lokalisiert wurde, für Kanada, damals britisches Hoheitsgebiet, dauerhaft in Besitz zu nehmen. Ihm schweben die Ausbeutung von Bodenschätzen, eine Rentierzucht, eine Landepiste für Flugzeuge und eine Wetterstation vor. Die ersten Kolonisten sollen die kanadischen und britischen Flaggen hissen, ein Jahr auf der Insel verbleiben, dann von einem Schiff nach Hause geholt und von einer zweiten Mannschaft abgelöst werden – so ist zumindest der Plan.
Ada meldet sich auf die Rekrutierungsanzeige, obwohl sie nicht die geringste Lust hat, sich in dieses Abenteuer zu stürzen. In der Methodistenschule hatte man sie Englisch, Kirchenlieder, die Ehrung der amerikanischen Flagge sowie den Verzicht auf Tabak und Alkohol gelehrt, aber nicht das Überleben in der Arktis. Doch sie braucht Geld. 1898 in Spruce Creek, Alaska, geboren und in Armut aufgewachsen, hatte sie mit 16 den gewalttätigen Hundeschlittenführer Jack Blackjack geheiratet, von ihm drei Kinder bekommen, deren zwei sterben im frühen Alter, das dritte erkrankt an Tuberkulose. Mit 22 wird sie geschieden und hält sich mit Gelegenheitsjobs als Näherin über Wasser. Die Einnahmen reichen nicht, um ihren kranken Sohn Bennett zu pflegen, sie muss ihn in ein Waisenheim geben. Ada erhofft sich von den 50 Dollar Honorar im Monat, das Stefánsson verspricht, eine Verbesserung ihrer kärglichen Lebensbedingungen und, vor allem, finanzielle Mittel für die Heilung ihres Sohns.
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Rob Kieffer, Jahrgang 1957, lebt als Journalist und Autor in Luxemburg. Er war erstaunt, dass Ada Blackjacks filmreife Lebensgeschichte bisher so wenig Aufmerksamkeit gefunden hat. Eine der wenigen, die sich bisher umfassend mit ihr befasst haben, ist die US-Journalistin und Drehbuchautorin Jennifer Niven, die das sorgfältig recherchierte Buch „Ada Blackjack. A True Story of Survival in the Arctic“ verfasst hat.
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Vita | Rob Kieffer, Jahrgang 1957, lebt als Journalist und Autor in Luxemburg. Er war erstaunt, dass Ada Blackjacks filmreife Lebensgeschichte bisher so wenig Aufmerksamkeit gefunden hat. Eine der wenigen, die sich bisher umfassend mit ihr befasst haben, ist die US-Journalistin und Drehbuchautorin Jennifer Niven, die das sorgfältig recherchierte Buch „Ada Blackjack. A True Story of Survival in the Arctic“ verfasst hat. |
Person | Von Rob Kieffer |
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Vita | Rob Kieffer, Jahrgang 1957, lebt als Journalist und Autor in Luxemburg. Er war erstaunt, dass Ada Blackjacks filmreife Lebensgeschichte bisher so wenig Aufmerksamkeit gefunden hat. Eine der wenigen, die sich bisher umfassend mit ihr befasst haben, ist die US-Journalistin und Drehbuchautorin Jennifer Niven, die das sorgfältig recherchierte Buch „Ada Blackjack. A True Story of Survival in the Arctic“ verfasst hat. |
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