Verführung im Schatten der Düne

In einem Haus am Strand schrieb die Schriftstellerin Marguerite Duras das Protokoll einer ungeheuren Liebe

August 1980: Ein Uferstreifen in der Normandie. Riesige Sandstrandflächen, soweit das Auge reicht. Die Wellen sind dicht an die Häuserzeilen herangerückt. Hochsommer in Trouville, einem mondänen Badeort am Ärmelkanal, keine zwei Autostunden von Paris entfernt.

Es herrscht Hochbetrieb. Menschenmengen, Imbißbuden, faulenzende Körper und rennende Kinder. Im Wind flattern Fahnen und Drachen. Der Horizont ist kaum noch auszumachen, vor Hitze flimmert die Luft.

Die imposante Fassade eines düsteren Mehrfamilienhauses, ein Flaggschiff aus der Zeit vor der Jahrhundertwende, ist mit der überdimensionierten Fensterfront dem Meer zugewandt, das in der Mittagssonne funkelt. Von ihrem Balkon, der sich in der Mitte dieser riesigen Trutzburg, den „Roches Noires“, befindet, blickt eine 65jährige, einsame Schriftstellerin auf das ungeordnete Schauspiel vor ihren Augen. Hinter ihren „Schwarzen Felsen“ hat sie sich verschanzt, hier weiß sie sich sicher. Sie gewahrt das Auf und Ab der Gezeiten und registriert Banalitäten, wird Zeugin von Auseinandersetzungen, beobachtet Sommerfrischler beim Auspacken ihrer Picknickkörbe. Unter den Badenden macht sie Berühmte und Unbekannte, Neureiche und Kleinfamilien, Hoffende und Enttäuschte aus. Für sich persönlich erwartet sie nichts mehr. Ihren schweifenden Blick läßt sie wie eine Kamera über den Sand gleiten. Das Drehbuch entsteht von allein, wie von selbst. Marguerite Duras filmt das Geschehen. Zugleich schreibt sie an einem Buch. Wie immer.

„In Trouville gibt es das Meer. Tag und Nacht, selbst wenn man es nicht sieht. In Paris verbinden uns nur die windigen und stürmischen Tage mit dem Meer. Sonst ist man ohne Meer.“ Im Auftrag der Tageszeitung „Libération“ arbeitet die Außenseiterin an einem künstlerischen Protokoll dieses Sommers, am Notizbuch einer Jahreszeit.

Noch hat sie den „Liebhaber“ nicht verfaßt. Sie skizziert, porträtiert und entwirft. Die Bühne vor ihrer Zimmerflucht inspiriert sie zu Abschweifungen ins Fiktive. Ihre Berichterstattung ist ungewöhnlich, unbequem und radikal einseitig. Vom spektakulären Tagesgeschehen – Streiks der Hafenarbeiter in Danzig, Olympische Spiele in Moskau, Krieg in Afghanistan – erfahren die Leser nur am Rande. Was Duras fasziniert, wiegt schwerer und bleibt dennoch unauffällig: die behutsame Annäherung zwischen einem kleinen Jungen und seiner halbwüchsigen Betreuerin.

Ein ungleiches Paar, eine unmögliche Zuneigung, die auf Badelaken, in den Brandungswellen, hinter den Dünen, vor der untergehenden Sonne entsteht, aufblüht und wächst. Fehlende Dialoge werden von ihr, einer Expertin der unerhörten Liebe, ergänzt. Phantasie und Erfahrung ermöglichen es Duras, das Auf und Ab einer zärtlichen Beziehung zu schildern, scheue Berührungen, wortloses Einverständnis, Tränen, Schreie, den Geruch nasser Haare, das plötzlich wertlos gewordene Spielzeug des Knaben, das Salz auf den Lippen des jungen Mädchens, den Trennungsschmerz. Der Altersunterschied ist beträchtlich, das Ausmaß der Liebe ungeheuer.

Was Duras noch nicht wissen kann: Am Ende dieses Sommers 1980 (so auch der endgültige Buchtitel) wird sie selbst von einer ungeheuren, unmöglichen Liebe überrumpelt und aus der Bahn geworfen werden. Yann Andréa, ein junger Homo-sexueller, kommt Marguerite in Trouville besuchen und wird bis zu ihrem Tode im März 1996 nicht mehr von ihrer Seite weichen.

Kein Zweifel, er ist viel zu jung für sie. Für eine beiderseitige geschlechtliche Erfüllung scheint keine Basis vorhanden zu sein. Doch bricht sich zwischen ihnen eine überwältigende Erfahrung Bahn – Geistesverwandtschaft, Begierde, Abhängigkeit, Liebe – so über alle Maßen vereinnahmend, daß sie als Stoff für ihr letztes Dutzend Bücher taugt. Die starken Gefühle der winzigen halbnackten Gestalten auf der Strandbühne jenseits der Fensterscheiben, die Episoden der Kinderliebe erscheinen als ein von der Wirklichkeit nur für die beiden Zuschauer „erfundener“ Stummfilm. Sie verdoppeln die Attraktivität, die der Jüngling und die berühmte Autorin aufeinander ausüben.

Dann, so plötzlich, wie der Sommer gekommen war, ist die Hitze vorüber. Der kleine Junge und die schöne junge Frau sind abgereist. Das Buch ist fertig, die Zeitungschronik erschienen. Ohne es zu wollen, hat Marguerite Duras ihre eigene Liebesgeschichte aufgezeichnet, Privates ist öffentlich geworden. Ganz Frankreich erfährt von ihrer letzten großen Romanze.

Es ist Herbst geworden. Yann ist bei ihr geblieben. „Das Meer ist grau, am Horizont schwarz, glatt und von eiserner Schwere. Segelboote, die sich nicht bewegen, verschmolzen mit dem Meer aus Eisen. Silhouetten von Strandspaziergängern, vom gleichen Schwarz wie der Horizont. Dann Wind. Am Nachmittag löst sich alles auf, wird blau und gerät wieder in Bewegung.“

Einige Wochen, nachdem sie diese Beobachtungen als Tagebuchnotiz, als Stimmungsvorgabe für ein Drehbuch, als Äußerung für eine Bühnenfigur festgehalten hat, beginnt die Duras ein neues Buch, das zweite über sich und Yann. Sie hat das Meer studiert, unabdingbare Voraussetzung, eine größere Schrift anzugehen. Ob Prosa, ob ein Theaterstück oder ein Film daraus werden mag, das weiß sie noch nicht genau. Für Duras sind Leben und Werk eine Einheit, Gattungszugehörigkeiten unerheblich geworden. Einstweilen, als geübte Chronistin, fühlt sie sich zur Niederschrift gerüstet. „Aber erst, nachdem ich jemandem, auf einer blauen Postkarte, den Satz über das Meer geschickt hatte.“

Der Empfänger dieser literarischen Botschaft heißt Yann. Er ist der Protagonist ihrer Alterswerke. In „Blaue Augen schwarzes Haar“ jagt er verzweifelt dem Phantombild eines verführerischen Matrosen hinterher. Marguerite ist an seiner Seite. In „Die Krankheit Tod“ mietet er sich eine Wohnung am Meer mit einer schönen Frau und klagt angesichts ihrer schmerzhaften Präsenz über seine Einsamkeit, schreit ihr sein Unvermögen entgegen, körperliche Liebe zu vollziehen. In „Emily L.“ verfolgen ein Jüngling und eine Greisin, die sich in Grund und Boden trinken, doch in zerrütteter Abhängigkeit aneinander gekettet bleiben, das Liebesleben anderer Paare, in deren Schicksal sie sich spiegeln können.

Seine Homosexualität ist kein Hindernis für ihre besondere, innige Zweisamkeit: Sie fungiert lediglich als Metapher für ein ganz allgemeines Hindernis zu lieben, wie es zwischen Männern und Frauen, zwischen Männern und Männern, zwischen Frauen und Frauen besteht. Denn Duras interpretiert alle Beziehungen von Paaren als unmöglich, gestört, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Eine scheue Verbundenheit entsteht nur am Strand, in der Öffentlichkeit, oder in eng abgezirkelten Innenräumen, in Häusern und Apartments, die sich auf einer Seite dem Meer öffnen, sich teilweise preisgeben.

Lieben heißt bei Duras vor allem: zu kranken und zu leiden an der Unfähigkeit zur Liebe. Nur als Geschwister, als Zwillinge, als Kinder, als Kombination von alter Frau und homosexuellem Jüngling läßt sich Partnerschaft zumindest zeitweise als ideal erleben, als naiver Ausnahmezustand. „Verschmolzen zu einer einzigen Gestalt, einem einzigen Alter.

Zusammengesunken, bewegungslos. Müde.“ Gemeinsam träumen solche Paare vom abwesenden, unerreichbaren, unwiderstehlichen Mann.

Beständiges Glück läßt sich mit Eroberern freilich nicht dauerhaft herstellen: Die Erfahrung mit dem chinesischen Liebhaber hat es der Fünfzehnjährigen in Indochina bewiesen, ebenso wie viele spätere Beziehungen und Abenteuer in Duras’ Vita. Robert Antelme, ihren ins KZ verschleppten Ehemann und Weggefährten in der Résistance, hat sie verlassen, als er sie am nötigsten brauchte: nach seiner Befreiung. Von Dionys Mascolo, dem Vater ihres Sohnes Outa und engagierten Mitstreiter ihrer kommunistischen Zelle in den fünfziger Jahren, trennte sie sich wieder. Mit beiden Partnern erprobte sie zwischendurch ein Leben im Dreieck, ein Experiment in der Enklave. Andere Affären, auch die mit dem Frauenhelden Gérard Jarlot, der sie zur Beerdigung ihrer Mutter begleitete und auf dem Weg dorthin verführte, wiesen in die Irre.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 14. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 14

No. 14Juni / Juli 1999

Von Jens Rosteck

Jens Rosteck, Jahrgang 1962, ist promovierter Musikologe und Literaturwissenschaftler. Als freier Autor lebt und arbeitet er in Paris und hat zahlreiche Beiträge zur jüngeren französischen Kulturgeschichte veröffentlicht

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Vita Jens Rosteck, Jahrgang 1962, ist promovierter Musikologe und Literaturwissenschaftler. Als freier Autor lebt und arbeitet er in Paris und hat zahlreiche Beiträge zur jüngeren französischen Kulturgeschichte veröffentlicht
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