Unsere Insel im Roten Meer

Jahrelang hoffte der Westberliner, dass aus seiner Insel im Meer der Roten wieder Festland würde. Dann wurde es. Leider

Von einer mythischen Insel will ich hier Kunde geben. Eine Insel, die wie das sagenumwobene Atlantis auf keiner Karte mehr zu finden ist. Eine Insel, von der nur noch uralte Legenden berichten, die aber keiner mehr hören will. Ja, von jenem legendären Westberlin soll hier letztmals die Rede sein, von unserem längst östlich überspülten Eiland der einstigen westlichen Glückseligkeit. Dort, auf jener Insel im roten Meer, stand der Leuchtturm der Freiheit inmitten rot schäumender Brandung. Dort, wo ein kühnes, raues Völkchen im Widerstand gegen die Urgewalten des realen Sozialismus die Stellung bis zum Letzten hielt.

Ich bin einer der letzten der Insulaner. Einer, der sich eigentlich selbst überlebt hat. Ein zeithistorisches Fossil. Nur noch ganz wenige Exemplare von uns Westberliner Ureinwohnern sind noch erhalten.

Bald 14 Jahre sind inzwischen vergangen seit jener Schreckensnacht, als die "Brüder und Schwestern jenseits der Mauer" den antifamiliären Schutzwall zu Fall brachten und über die Einwohner des bis dahin traulich ummauerten Frontstädtchens herfielen. Seit jener Nacht ist es mit uns aus und vorbei. Nirgends eine mitfühlende Seele, die sich um unser Schicksal bekümmerte! Im Gegenteil: Die Invasoren waren es, besagte "Ossis", denen die Fürsorglichkeit nun ausschließlich galt. Fast über Nacht gab es eine neue Art von Sozialarbeitern, berufsmäßige Ossologen (natürlich aus dem Westen), die nur noch mit den traurigen Lebensläufen der Zwangssozialisierten beschäftigt waren und ständig für mildernde Umstände plädierten.

Aber wie sah und sieht es wohl mit der Befindlichkeit jenes einstigen insularen Eingeborenen aus, der jäh seines Biotops beraubt ward? Über Nacht wurde seine eingefriedete Idylle von brutalen Mauerspechten in Grund und Boden gehackt. Urplötzlich war seine immer schon wild umwogte Insel von einer Sturmflut über- schwemmt. Das rote Meer schwappte über ihm zusammen. Und kein Moses kam, auf dass sich ein Transitweg auftue durch die Fluten hin zu einem neuen, freiheitlichen Eiland. Von diesen hereinströmenden Massen wurde als erstes die Westberliner Identität hinweggespült. Denn die war durch die Mauer definiert - und das in jedem Sinne, auch in dem des Wortes: Eine De-Finition ist ja eine Ab-Grenzung gegen das Infinitive, das Unendliche - und damit hatte es sich nun ausgemeert.

O, du wackerer Insulaner, du einsamer Leuchtturmwärter der Freiheit - dir zum ewigen Ruhme will ich sie singen, die letzte Hymne! Du hieltest die Wacht in dunkelster Stunde, ein Nachtwächter, den die westdeutschen Herrschaften längst abgeschrieben hatten, nachdem sie mit immer neuen Abschreibungsgeschäften ihre Börse ins Trockene gebracht hatten.

Jeden Morgen, den Berolina, die Göttin der Freiheit, werden ließ, schlugst du unerschrocken die Augen auf und sahst als erstes das Weiße im Auge des Bolschewiken, der als dräuendes Ungeheuer sein Schreckenshaupt begehrlich über die Stadtmauern streckte.

O du Unerschrockener, der du, als plötzlich die Stadtmauer ins Wanken geriet, noch jubelnd den unverhofften Zustrom begrüßtest. In stinkende Trabbis stecktest du freundlich durchs Fenster Bananen, die ja so reichlich wuchsen auf deiner Insel. Damals haben sie deine Chiquitas noch gefressen, die falschen Verwandten; doch heute behaupten sie, du hättest ihnen ein krummes Ding angedreht. Die Bananenschale, auf der sie ausgerutscht sind und die sie sich vor die eigenen Füße geworfen hatten, machen sie dir jetzt zum Vorwurf. Inzwischen, o Insulaner, ist dein kleines freies Reich nahezu völlig verostet. Du bist ein eigentlich längst Vergangener.

Und wenn auch sonst keiner deinen heldischen Untergang besingt, so will doch zumindest ich dein mit dir untergehender Besinger sein. Bin ich doch einer wie du, einer von uns. Einer, der singt und singt ... und sinkt und sinkt und sinkt ...

mare No. 40

No. 40Oktober / November 2003

Von Martin Buchholz

Der Kabarettist Martin Buchholz, häufiger Gast der Berliner "Wühlmäuse", präsentiert ab November im "Tränenpalast" der Hauptstadt sein neues Programm.

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Vita Der Kabarettist Martin Buchholz, häufiger Gast der Berliner "Wühlmäuse", präsentiert ab November im "Tränenpalast" der Hauptstadt sein neues Programm.
Person Von Martin Buchholz
Vita Der Kabarettist Martin Buchholz, häufiger Gast der Berliner "Wühlmäuse", präsentiert ab November im "Tränenpalast" der Hauptstadt sein neues Programm.
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