T. C. BOYLE
Amerikanischer Schriftsteller
Nach ihrer Rückkehr von einem Schüleraustausch in Bremen hat mir meine Tochter von den Rettungstürmen im Watt erzählt, auf die sich von der Flut überraschte Wanderer zurückziehen können. In Kalifornien, wo ich in der Nähe von Santa Barbara drei Blocks vom Strand entfernt lebe, haben wir ganz andere Probleme. Als ich vor etwa 20 Jahren an die Pazifikküste zog, habe ich erst einmal Vorlesungen im maritimen Museum besucht und mich von einem Wissenschaftler über die Weißen Haie aufklären lassen, die vor der Küste auf Beutejagd nach Robben gehen. Ich bin stolzer Besitzer zweier Seekajaks, und bedauerlicherweise ähnelt der Schatten eines Kajaks in den Augen des Haies dem Schatten einer Robbe. Ich hatte von Zwischenfällen gehört, in denen ein Hai mit einem Kajak zusammengestoßen war, und war deshalb etwas nervös. Die Wissenschaftler aber erklärten mir, dass Haie nur bei Tageslicht und etwa 300 Meter vor der Küste jagen, weil sich dort die Robben aufhalten. Ich habe mir also ein Maßband besorgt, bin 300 Meter in den Pazifik hinausgepaddelt, und mir ist nie etwas passiert, sodass ich heute davon berichten kann.
Erfahrene Seeleute merken dieser Schilderung wahrscheinlich schon an, dass ich eine echte Landratte bin und auf dem Wasser nicht sonderlich gut abschneide. Als ich vor ein paar Jahren an meinem Roman „Wenn das Schlachten vorbei ist“ arbeitete, der teilweise auf Santa Cruz spielt, einer der im Santa-Barbara-Kanal gelegenen Inseln, wollte ich mich dort ein wenig umsehen und habe mich auf die etwa eineinhalbstündige Bootsfahrt dorthin begeben. Der Seegang im Kanal kann ziemlich stark sein, und ich war die ganze Zeit kurz davor, mich zu übergeben – was nicht an den Hamburgern lag, die an Bord serviert werden.
Das war gerade noch okay, aber „San Miguel“, mein nächster Roman, stellte mich vor neue Probleme, denn San Miguel ist die westlichste der Santa-Barbara-Inseln, die Fahrt hinaus dauert mit einem Powerboot mehr als vier Stunden. Man kann auf der Insel auf einer Art Campingplatz übernachten und muss eine Woche warten, bevor man wieder abgeholt wird. Nichts für mich, doch es gab schließlich eine einfache Lösung, dieses Problem zu umgehen: Ich habe ein Flugzeug gechartert und bin zusammen mit meinem Sohn, einem Historiker, einem Ökologen und dem zuständigen Ranger nach San Miguel geflogen. Schon aus dem Flugzeug konnte man die See-Elefanten sehen, die sich zur Paarungszeit an der Küste der Kanalinseln aufhalten – monströse, etwa zwei Tonnen schwere Bullen, die sich zur Paarung auf ihre Kühe werfen. Nachdem wir gelandet waren, sagte ich zu dem Ranger, dessen Haus das einzige auf der ganzen Insel ist: „Glaubst du, es wäre ein Verstoß gegen den Artenschutz, wenn ich mal eben hinunterschlüpfen und es mit einer der See-Elefanten-Kühe treiben würde?“ Der Ranger blickte mich einen Moment lang komisch an und sagte: „Weißt du, das wäre vermutlich ein Verstoß gegen alles, was ich mir vorstellen kann.“ Also habe ich es gelassen.
Das bringt mich auf „Moby-Dick“. Nicht nur für Herman Melville, der genau wie Joseph Conrad selbst zur See gefahren ist, war der Ozean sowohl ein realer als auch ein mythischer und metaphysischer Ort. Zu Melvilles Zeit war die Erde noch nicht so überbevölkert wie heute, die Welt war ungleich größer, aber schon damals war der Ozean eine der letzten Grenzen im Sinne der frontiers, ein Gebiet, auf dem man den Zwängen der Gesellschaft entkommen konnte und der Gnade der Elemente ausgeliefert war. So wie ich in meinem Kajak. Ich habe kürzlich ein tolles Buch gelesen, „Der Fisch in uns“, in dem der amerikanische Biologe Neil Shubin, erzählt, wie der Mensch aus dem Meer hervorgegangen ist und mit Fischen mehr gemeinsam hat, als uns vielleicht lieb ist. Für mich gilt trotz dieser Erkenntnis: nur so weit aufs Meer hinaus, wie man Land sehen kann. In dieser Hinsicht ist der Ozean auch für mich als Schriftsteller die letzte Grenze, die meine Fantasie anregt, mich zwingt, mir alles, was jenseits davon liegt, vorzustellen.
Im 19. Jahrhundert, der Zeit, in der mein neuer Roman zum Teil spielt, dauerte es wahrscheinlich länger als einen halben Tag, San Miguel zu erreichen. Die Insel ist nicht nur einer der westlichsten, sondern auch einer abgeschiedensten Orte Amerikas und hat mich daher auf ähnliche Weise inspiriert wie das Sanatorium in „Willkommen in Wellville“ oder die Hippiekommune in „Drop City“. Ich habe mich in vielen meiner Romane für eine isolierte, von der übrigen Gesellschaft abgeschnittenen Gruppe von Menschen interessiert, die Vorstellung, seine eigene Insel zu besitzen, sein eigener König oder seine eigene Königin zu sein, hat in einer Welt, die zunehmend enger wird, etwas sehr Verführerisches. Ein Leben ohne Gesetz, ohne Regierung, ohne gesellschaftliche Zwänge – ein Leben als Außenseiter, ein Leben nur im Einklang mit der Natur.
Obwohl ich nicht unbedingt ein Fisch sein möchte und gern die Kontrolle über mein Leben habe, merke ich mit zunehmendem Alter, dass ich im Grunde auch nur das Leben eines Tieres geführt und die gleichen Dinge getan habe wie jedes andere Tier. Ich habe mich gepaart und fortgepflanzt, ich habe mir wie ein Vogel ein Nest gebaut und für meine Kinder gesorgt. Der Mensch denkt, dass er in seiner eigenen, zivilisierten Welt lebt, aber im Grunde sind wir durch unsere Gene und Hormone programmiert.
Wie wenig uns diese Tatsache normalerweise bewusst ist, habe ich vor 20 Jahren erlebt, als ich zum ersten Mal mit Schnorchel und Tauchermaske zum Strand hinunterlief. Es war am Wochenende vor dem Labor Day am ersten Montag im September, an dem sich die Leute zum Ausklang des Sommers noch einmal so richtig am Strand breitmachen. Ich lief an all den jungen Frauen in Badeanzügen und Bikinis vorbei, an der Menschenmenge, die vergnügt herumplanschte, doch sobald ich mit Maske und Schnorchel unter Wasser war, sah ich einen riesigen Teppich aus Fledermaus- und Stachelrochen und allen anderen Rochenarten, die man sich nur vorstellen kann. Der Santa-Barbara-Kanal produziert eine Unmenge von Plankton, vor unserer Haustür tummeln sich nicht nur Haie, sondern Blau- und Buckelwale und inzwischen auch eine Population von etwa 2000 Delfinen, denen man auf dem Weg nach Santa Cruz begegnen kann.
Damals war, so weit ich sehen konnte, der ganze Meeresgrund voller Rochen, und auch wenn keiner der Leute, die im Wasser herumspielten, zu Schaden kam, führte mir dieses Erlebnis auf unvergessliche Weise vor Augen, wie blind der Mensch gegenüber der Realität ist und wie wenig er von der Welt, in der er lebt, eigentlich weiß.
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T. C. Boyle (Jahrgang 1948), geboren in Peekskill, New York, schrieb sich mit seinem Debütroman „Wassermusik“ 1982 in die erste Riege der amerikanischen Erzähler. 1988 gewann er für „World’s End“ den Faulkner Award, mittlerweile ist sein Werk auf 14 Romane und sieben Kurzgeschichtenb nde angewachsen. Boyle ist bekannt für seine unterhaltsamen Lesungen, als Vorbilder nennt er Bruce Springsteen und Jim Morrison.
Ulrike Folkerts (Jahrgang 1961) wurde seit 1989 prominent durch ihre Rolle als wenig harmoniesüchtige Kommissarin Lena Odenthal in der ARD-Krimiserie „Tatort“. Den schroff-intelligenten Charakter spielt sie derart überzeugend, dass ihr die Produzenten wenig Raum für andere Engagements lassen und sie nach dem legendären Horst Tappert die dienst lteste deutsche TV-Kommissarin ist. Ausflüge ins Theaterfach leistet sich die gelernte Schauspielerin, so oft es geht.
Durs Grünbein (Jahrgang 1962), geboren und aufgewachsen in Dresden, gehört zu den wichtigsten deutschen Lyrikern. Zunächst arbeitete er an mehreren ostdeutschen Theatern und wurde durch den Dramatiker Heiner Müller an den Frankfurter Suhrkamp- Verlag vermittelt. 1988 erschien „Grauzone morgens“, seine erste Gedichtsammlung. Der Büchner-Preisträger lebt seit vielen Jahren in Berlin.
Hubertus Meyer-Burckhardt (Jahrgang 1956) agiert im Lauf seiner Karriere vor der Kamera ebenso viel wie dahinter. Er moderiert die „NDR Talk Show“, produzierte aber auch den Emmy-nominierten NDR-Film „Das Urteil“, entwickelte diverse TV-Formate und ist nebenbei Professor an der Hamburg Media School.
Harry Rowohlt (Jahrgang 1945) ist bersetzer von Büchern weltberühmter englischsprachiger Autoren. Und noch viel mehr. Die „FAZ“ schrieb über den Spross der Verlegerfamilie einmal, er sei ein „Klein- und Sprach- und Redekünstler“. Seine Art, Lesungen zu gestalten, ist Kult, ebenso sein ungezähmter Bart.
Corinna Harfouch (Jahrgang 1954), aufgewachsen im s chsischen Gro enhain, absolvierte eine Ausbildung als Krankenschwester, bevor sie von 1978 bis 1981 Schauspiel an der Staatlichen Schauspielschule Berlin-Sch neweide studierte. Ihren ersten großen Erfolg am Theater feierte sie als Lady Macbeth an der Volksbühne Berlin unter der Regie von Heiner Müller. Harfouch gehört heute zu den wichtigsten deutschen Bühnen- und Filmdarstellerinnen.
Susanne Bormann (Jahrgang 1979) fing schon als kleines Kind mit der Schauspielerei an: Als Achtjährige war sie in ihrem ersten Kinofilm, in Michael Gwisdeks „Treffen in Travers“, zu sehen. Während der gesamten Schulzeit stand die Berlinerin nebenher vor der Kamera. Nach dem Abitur besuchte sie die Schauspielschule.
Vita | T. C. Boyle (Jahrgang 1948), geboren in Peekskill, New York, schrieb sich mit seinem Debütroman „Wassermusik“ 1982 in die erste Riege der amerikanischen Erzähler. 1988 gewann er für „World’s End“ den Faulkner Award, mittlerweile ist sein Werk auf 14 Romane und sieben Kurzgeschichtenb nde angewachsen. Boyle ist bekannt für seine unterhaltsamen Lesungen, als Vorbilder nennt er Bruce Springsteen und Jim Morrison. Ulrike Folkerts (Jahrgang 1961) wurde seit 1989 prominent durch ihre Rolle als wenig harmoniesüchtige Kommissarin Lena Odenthal in der ARD-Krimiserie „Tatort“. Den schroff-intelligenten Charakter spielt sie derart überzeugend, dass ihr die Produzenten wenig Raum für andere Engagements lassen und sie nach dem legendären Horst Tappert die dienst lteste deutsche TV-Kommissarin ist. Ausflüge ins Theaterfach leistet sich die gelernte Schauspielerin, so oft es geht. Durs Grünbein (Jahrgang 1962), geboren und aufgewachsen in Dresden, gehört zu den wichtigsten deutschen Lyrikern. Zunächst arbeitete er an mehreren ostdeutschen Theatern und wurde durch den Dramatiker Heiner Müller an den Frankfurter Suhrkamp- Verlag vermittelt. 1988 erschien „Grauzone morgens“, seine erste Gedichtsammlung. Der Büchner-Preisträger lebt seit vielen Jahren in Berlin. Hubertus Meyer-Burckhardt (Jahrgang 1956) agiert im Lauf seiner Karriere vor der Kamera ebenso viel wie dahinter. Er moderiert die „NDR Talk Show“, produzierte aber auch den Emmy-nominierten NDR-Film „Das Urteil“, entwickelte diverse TV-Formate und ist nebenbei Professor an der Hamburg Media School. Harry Rowohlt (Jahrgang 1945) ist bersetzer von Büchern weltberühmter englischsprachiger Autoren. Und noch viel mehr. Die „FAZ“ schrieb über den Spross der Verlegerfamilie einmal, er sei ein „Klein- und Sprach- und Redekünstler“. Seine Art, Lesungen zu gestalten, ist Kult, ebenso sein ungezähmter Bart. Corinna Harfouch (Jahrgang 1954), aufgewachsen im s chsischen Gro enhain, absolvierte eine Ausbildung als Krankenschwester, bevor sie von 1978 bis 1981 Schauspiel an der Staatlichen Schauspielschule Berlin-Sch neweide studierte. Ihren ersten großen Erfolg am Theater feierte sie als Lady Macbeth an der Volksbühne Berlin unter der Regie von Heiner Müller. Harfouch gehört heute zu den wichtigsten deutschen Bühnen- und Filmdarstellerinnen. Susanne Bormann (Jahrgang 1979) fing schon als kleines Kind mit der Schauspielerei an: Als Achtjährige war sie in ihrem ersten Kinofilm, in Michael Gwisdeks „Treffen in Travers“, zu sehen. Während der gesamten Schulzeit stand die Berlinerin nebenher vor der Kamera. Nach dem Abitur besuchte sie die Schauspielschule. |
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Person | Die Texte der Autorinnen und Autoren sind aus dem Jahr 2013. |
Vita | T. C. Boyle (Jahrgang 1948), geboren in Peekskill, New York, schrieb sich mit seinem Debütroman „Wassermusik“ 1982 in die erste Riege der amerikanischen Erzähler. 1988 gewann er für „World’s End“ den Faulkner Award, mittlerweile ist sein Werk auf 14 Romane und sieben Kurzgeschichtenb nde angewachsen. Boyle ist bekannt für seine unterhaltsamen Lesungen, als Vorbilder nennt er Bruce Springsteen und Jim Morrison. Ulrike Folkerts (Jahrgang 1961) wurde seit 1989 prominent durch ihre Rolle als wenig harmoniesüchtige Kommissarin Lena Odenthal in der ARD-Krimiserie „Tatort“. Den schroff-intelligenten Charakter spielt sie derart überzeugend, dass ihr die Produzenten wenig Raum für andere Engagements lassen und sie nach dem legendären Horst Tappert die dienst lteste deutsche TV-Kommissarin ist. Ausflüge ins Theaterfach leistet sich die gelernte Schauspielerin, so oft es geht. Durs Grünbein (Jahrgang 1962), geboren und aufgewachsen in Dresden, gehört zu den wichtigsten deutschen Lyrikern. Zunächst arbeitete er an mehreren ostdeutschen Theatern und wurde durch den Dramatiker Heiner Müller an den Frankfurter Suhrkamp- Verlag vermittelt. 1988 erschien „Grauzone morgens“, seine erste Gedichtsammlung. Der Büchner-Preisträger lebt seit vielen Jahren in Berlin. Hubertus Meyer-Burckhardt (Jahrgang 1956) agiert im Lauf seiner Karriere vor der Kamera ebenso viel wie dahinter. Er moderiert die „NDR Talk Show“, produzierte aber auch den Emmy-nominierten NDR-Film „Das Urteil“, entwickelte diverse TV-Formate und ist nebenbei Professor an der Hamburg Media School. Harry Rowohlt (Jahrgang 1945) ist bersetzer von Büchern weltberühmter englischsprachiger Autoren. Und noch viel mehr. Die „FAZ“ schrieb über den Spross der Verlegerfamilie einmal, er sei ein „Klein- und Sprach- und Redekünstler“. Seine Art, Lesungen zu gestalten, ist Kult, ebenso sein ungezähmter Bart. Corinna Harfouch (Jahrgang 1954), aufgewachsen im s chsischen Gro enhain, absolvierte eine Ausbildung als Krankenschwester, bevor sie von 1978 bis 1981 Schauspiel an der Staatlichen Schauspielschule Berlin-Sch neweide studierte. Ihren ersten großen Erfolg am Theater feierte sie als Lady Macbeth an der Volksbühne Berlin unter der Regie von Heiner Müller. Harfouch gehört heute zu den wichtigsten deutschen Bühnen- und Filmdarstellerinnen. Susanne Bormann (Jahrgang 1979) fing schon als kleines Kind mit der Schauspielerei an: Als Achtjährige war sie in ihrem ersten Kinofilm, in Michael Gwisdeks „Treffen in Travers“, zu sehen. Während der gesamten Schulzeit stand die Berlinerin nebenher vor der Kamera. Nach dem Abitur besuchte sie die Schauspielschule. |
Person | Die Texte der Autorinnen und Autoren sind aus dem Jahr 2013. |