Sylt

Sylt ist ein nicht enden wollendes, sich ständig erneuerndes stetes kleines Wunder

Dinieren Möwen? Küssen Quallen? Wispern Igel? Jedenfalls ist es ein eigenartiges Bild, die Möwen – exakt zu den wechselnden Gezeiten – bei Niedrigwasser an den muschelverklebten Buhnen hocken zu sehen, eine weißgefiederte Welle, die sich im Rhythmus der Wogen hebt und senkt, von der Tafel aber nicht abläßt. Jedenfalls ist es ein eigenartiges Spiel, das die Quallen mit ihren rosa geränderten „Lippen“ bieten, fließend aufeinander zu und voneinander weg; tanzen sie ihren Wogen-Tango aus Wollust? Jedenfalls ist es von erstaunlicher Gemütlichkeit, wenn die September-Igel – wie verabredet – gegen Abend gemeinsam aus ihren Verstecken hervortrippeln und, sich ihrer Stachelwehr bewußt, Pfade und Wege überqueren.

Sylt ist ein nicht enden wollendes, sich ständig erneuerndes stetes kleines Wunder: ob die zartlila Dünenveilchen – winzige Biedermeier-Stiefmütterchen – im vom Sonnenglast ausgedorrten Sand, der bunte Schatten, den die im rasenden Frühjahrswind grün-gelb-orangefarbenen Splitterscherben von gegeneinander scheppernden Ostereierbäumen werfen, oder der bleiche Finger des Leuchtturmfeuers, der durch den Novembernebel streift, als wolle er die Dünengespenster herbeistreicheln. Manchmal, in den Sommernächten, gibt ein schweigendes Meer weit draußen Sandrippen frei, der Wind schält Fetzen von der Haut des Meeres, und die winzigen Vögel, die Strandläufer in ihrer possierlichen Emsigkeit, bilden ein flatterndes Hohlsaummuster; manchmal hängen die Regentropfen wie Glasperlen im windgeschützten Dünengras, und dann wieder rinnt der Tau an den roten Hagebutten in Zwergenwald mit seinen kleinen kandierten Äpfeln wie flüssiger Zucker herab. Das Meer erzählt seine Märchen, sie haben je einen anderen Klang, eine immer andere Farbe, wechselnd zu jeder Jahreszeit. Mal sieht man, bei Pulverschnee, muschelförmige weißgepuderte Fußabdrücke – die aber, als seien die Spaziergänger entschwebt, nirgendwohin weiterführen dort, wo kein Schnee hinwehte, in jenen hohen Himmel, an dem die Möwen kokett protzig blitzenden Lalique-Schmuck tragen: das sind die gefrorenen Seesternchen, in deren Eisschicht sich das Licht der fahlen Wintersonne bricht. Ja, die kalte Wintersonne; ihr rufen die weißgeplusterten Wogen zu: „Komm, kühle Scheibe, wir hüllen dich ein, unsere Steppdecke wird dich wärmen.“ Die kühle Scheibe aber schneidet lieber ihre tiefschwarzen Schatten in die Dünen, dräuende Segel der Seeräuber, die wohl in der Nacht vor Heiligabend die Diamanten, Picasso-Lithos und das Sèvre-Porzellan rauben werden, die unter den Weihnachtsbäumen der Strandvillen liegen sollten. … Diese ständig wechselnde Naturwelt ist das Raunen von Sylt, dem ich verfallen bin: Es kann dünn und kärglich sein im kaum sich hervorwagenden Vorfrühling, wenn über dem schlohweißen Strandhafer – kein Bleike Bleikensen kann so blond sein – die ersten hellgelbgrünen Weidenkätzchen nach der Sonne lecken und die nachgepflanzten Bäumchen mit ihren drei Kummertrieben sich in Plastikschatullen verstecken, der Kaninchen wegen. Sylt kann theatralisch sein, etwa ein schwarzes Paillettenkleid, leicht grünlich schillernd im abendlichen Mailicht, eine Abend­robenkrinoline, die sich im Spiegel des Wassers wiegt: die muschelbewachsenen Betonpfeiler der Buhnen. Und es kann rauschhaft sein, Sylt im Juni: eine ganze Insel duftet nach Rosen, die Lupinen – wohl außer Dahlien die einzige Blume, die an einem Blütenstand verschiedene Farben trägt – in ihrem Gold­orange mit Lila, Rosa, Weiß, Gelb und Bordeauxrot fast künstlich prunkend, während Keitum (das Dorf, in dem sich einst Kapitäne zur Ruhe setzten, im 18. Jahrhundert Hauptort der Insel, die nur per Postsegler oder im Winter mit dem Eisboot zu erreichen war) im vielfarbenen Kissen aus blühenden Kastanien, Flieder, Rhododendron, Klatschmohn und Weißdorn ruht: ein Juwel in schimmerndem Blütensamt, darüber Wasserfälle von Goldregen. Doch Märchen, bekanntlich, können auch giftig sein. Hat man sich eben noch staunend erfreut an Pflanzen, deren Namen aus versunkener 
Zeit herüberzuklingen scheinen – Krähenbeere und Glocken­heide, geflecktes Knabenkraut und Lungenenzian, Ährenlilie und Besenheide, Strandsalzmiere und Sonnentau, Bergsandlöckchen und Sumpfbärlapp –, kann man sich schon in der Hautklinik wiederfinden: Der so prachtvoll sein betörend duftendes Blütendach über sich wölbende Bärenklau ist so giftig, daß nur Feuerwehrleute in Spezialkleidung ihn roden können – einen Stiel mit der Hand gebrochen oder nur die scharfzackigen dekorativen Blätter gestreift, und schon erleidet man schwerste Hautverbrennungen. Da widersteht man alsbald der adoleszenten Begierde, die blonden Kornähren auf den spätsommerlichen Äckern zu Zöpfen zu flechten, steht lieber in gesicherter Entfernung, um die zotteligen Galloway-„Bären“, mächtige schwarzgelockte Rinder, beim Weiden zu beobachten – oder ein Apfelschimmelfohlen, so niedlich-ungelenk vor dem schwarzweiß gestreiften Leuchtturm von Kampen, als habe die Kurverwaltung es eigens dort hingestellt.


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mare No. 164

mare No. 164Juni / Juli 2024

Von Fritz Raddatz

Fritz Raddatz, 1931–2015, war einer der passioniertesten Feuilletonisten unserer Zeit. Er hat viel Zeit auf Sylt verbracht und seine Liebe zur Insel in einem Buch für den mareverlag verewigt. Auf dem ­Keitumer Friedhof, wo er heute begraben liegt, hatte er sich schon mit 50 einen Platz reserviert.

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Vita Fritz Raddatz, 1931–2015, war einer der passioniertesten Feuilletonisten unserer Zeit. Er hat viel Zeit auf Sylt verbracht und seine Liebe zur Insel in einem Buch für den mareverlag verewigt. Auf dem ­Keitumer Friedhof, wo er heute begraben liegt, hatte er sich schon mit 50 einen Platz reserviert.
Person Von Fritz Raddatz
Vita Fritz Raddatz, 1931–2015, war einer der passioniertesten Feuilletonisten unserer Zeit. Er hat viel Zeit auf Sylt verbracht und seine Liebe zur Insel in einem Buch für den mareverlag verewigt. Auf dem ­Keitumer Friedhof, wo er heute begraben liegt, hatte er sich schon mit 50 einen Platz reserviert.
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