Wenn sie Fischschwärme beobachteten, waren frühe Naturforscher oft so beeindruckt, dass sie sich das perfekte Zusammenspiel der Bewegungen innerhalb solcher Kollektive nur durch Telepathie erklären konnten, Gedankenübertragung. Heringsschwärme etwa, die sich auf ihren Wanderungen durchs Meer wie ein einziger Organismus zu verhalten scheinen, können aus Millionen von Individuen bestehen. Ohne Anführer bewegen sie sich in absoluter Harmonie.
Untersuchungen aus jüngerer Zeit zeigen, dass nicht Gedankenübertragung dieses Wunder ermöglicht. Fische haben aber, so ergaben wissenschaftliche Studien weiter, tatsächlich einen sechsten Sinn.
Spielt man Videoaufnahmen von Fischschwärmen in Zeitlupe ab, wird deutlich, dass beim gemeinsamen Schwimmen vor allem drei Faktoren wirken: Anziehung, Abstoßung und Nachahmung. Konkreter: Sobald der Fisch zur Rechten eine neue Richtung einschlägt, folgt ihm das Individuum an seiner Seite. Setzt ein Fisch sich zu stark vom „Vordermann“ ab, beschleunigt der sein Tempo, schließt er zu dicht auf, bremst er ab.
Richtungsänderungen beginnen meist lokal mit einer kleinen Gruppe und weiten sich dann wie eine Kettenreaktion aus. Jeder Fisch reagiert also mit leichter Verzögerung auf die Bewegung seiner Nachbarn, und die Bewegungsimpulse pflanzen sich wie „La-Ola-Wellen“ im Fußballstadion durch den ganzen Schwarm fort – und das so rasend schnell, dass sich der Eindruck von Gleichzeitigkeit einstellt.
Doch wie gelingt Fischen dieses Kunststück? Insbesondere in trübem Wasser oder in nächtlicher Dunkelheit? Die wohl wichtigste Rolle spielen hoch spezialisierte Schuppen, die in einer waagerechten Reihe an beiden Seiten des Körpers verlaufen und sich meist als dunkler Strich abzeichnen: das Rumpfseitenlinienorgan. Es besteht aus Sinneshügeln, sogenannten Neuromasten, also Ansammlungen von Sinneszellen mit haarähnlichen Fortsätzen, die in einer gallertigen Kapsel enden.
Kleinste Wasserströmungen und Verwirbelungen bewirken eine Auslenkung dieser Neuromastenhärchen, worauf entsprechende Nervenimpulse ans Gehirn gesendet werden. Auf diese Weise ermöglicht das Seitenlinienorgan Fischen, in die Ferne zu tasten.
Fische spüren zum Beispiel sofort, wenn sich von der Seite ein Feind nähert. Sie reagieren blitzschnell, und ihre Nachbarn schwimmen hinterher. Ihr sechster Sinn befähigt manche Fische auch dazu, sich in völliger Dunkelheit zu orientieren. Durch ruckartige Bewegungen erzeugen die Flossentiere Wasserströme. Treffen diese auf Widerstände, ergeben sich Verzerrungen, die vom Seitenlinienorgan registriert werden – was den Fischen ermöglicht, Rückschlüsse auf Objekte in ihrer Umgebung zu ziehen.
Unersetzlich ist der Ferntastsinn für Höhlenfische. Obwohl diese ausschließlich in lichtlosen Grotten leben und keine Augen haben, stoßen sie sich niemals an einem Felsvorsprung den Kopf, sondern weichen Hindernissen geschickt aus. Die Neuromasten ersetzen bei Höhlenfischen gewissermaßen den Blindenstock.
Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 151. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.
Till Hein, geboren 1969, Autor in Berlin, trainiert seit 20 Jahren japanische Kampfkunst. „Aikido macht viel Spaß“, sagt er. „Aber wenn mir dabei die Brille herunterfällt, vermisse ich ein Seitenlinienorgan.“
Die brasilianische Illustratorin Julie Sodré, Jahrgang 1978, wohnhaft in Bendestorf bei Hamburg, hat sich auf Tierzeichnungen spezialisiert.
Lieferstatus | Lieferbar |
---|---|
Vita | Till Hein, geboren 1969, Autor in Berlin, trainiert seit 20 Jahren japanische Kampfkunst. „Aikido macht viel Spaß“, sagt er. „Aber wenn mir dabei die Brille herunterfällt, vermisse ich ein Seitenlinienorgan.“ Die brasilianische Illustratorin Julie Sodré, Jahrgang 1978, wohnhaft in Bendestorf bei Hamburg, hat sich auf Tierzeichnungen spezialisiert. |
Person | Von Till Hein und Julie Sodré |
Lieferstatus | Lieferbar |
Vita | Till Hein, geboren 1969, Autor in Berlin, trainiert seit 20 Jahren japanische Kampfkunst. „Aikido macht viel Spaß“, sagt er. „Aber wenn mir dabei die Brille herunterfällt, vermisse ich ein Seitenlinienorgan.“ Die brasilianische Illustratorin Julie Sodré, Jahrgang 1978, wohnhaft in Bendestorf bei Hamburg, hat sich auf Tierzeichnungen spezialisiert. |
Person | Von Till Hein und Julie Sodré |