Ostseeperlen

Ulrich Müther spannte in der DDR raffinierte Dächer aus Stahlbeton. Fast wären sie in Vergessenheit geraten

„Sonderbauten" hießen sie zu Zeiten der DDR, und so sehen sie auch aus, die Schalenbauten von Ulrich Müther. Hinter den dynamischen Entwürfen steckt allerdings kein expressiver Künstler, sondern eher ein kühler Rechner. Als Kind hatte der Rüganer mit Muscheln gespielt und ihre dünne, enorm belastbare Schale bestaunt. Nach diesem Vorbild entwickelte er als Erwachsener gekrümmte Tragwerke aus gebogenen Stahlmatten, die er durch eine Spritzbetonschicht stabilisierte.

Diese zeitaufwendige, aber materialsparende Bauweise entsprach den wirtschaftlichen Bedingungen der DDR. In Westdeutschland dagegen, wo Baustoffe günstig und Arbeitskräfte teuer waren, traten Schalenbauten nur als unwirtschaftliche Randerscheinung auf. Heute gelten die letzten ostdeutschen Exemplare in Fachkreisen als erhaltenswerte Zeitzeugen der Baugeschichte. Unter jungen Berliner Architekten sind Müthers Schalenkonstruktionen längst Kult.

Mit Design hat Müther selbst nicht viel im Sinn. Als 24-Jähriger übernimmt der gelernte Zimmermann und Absolvent der Ingenieurschule die elterliche Baufirma. Nebenbei beginnt er ein Fernstudium an der Technischen Universität Dresden. Die Schalentheorien ungarischer und rumänischer Mathematiker faszinieren ihn. 1963 entwirft er als Diplomarbeit eine gekrümmte Spritzbetonplatte als Terrassenüberdachung für ein Binzer Ferienheim. Beton gilt als Baustoff der unbegrenzten Möglichkeiten, aber noch ist in Dresden niemand in der Lage, die Kraftverläufe solcher Konstruktionen präzise zu berechnen. Müther wird an einen neu eingerichteten Berliner Lehrstuhl verwiesen. Vier Monate lang experimentiert er dort mit Modellen, 14 Monate lang berechnet er den Kräfteverlauf, dann wird endlich gebaut.

Müthers fliegende Platte erregt Aufsehen. Der Staatsrat ordert daraufhin ein freitragendes Dach für einen alten Speisesaal. 1966 wird er beauftragt, innerhalb von 150 Tagen eine große Halle für die Ostseemesse in Rostock zu planen und zu bauen. Zur offiziellen Eröffnung wird der junge Ingenieur allerdings nicht eingeladen, denn er hat kein Parteibuch. Doch die Messehalle spricht für sich, und auf Folgeaufträge muss Müther nicht lange warten. Immer wieder variiert er die Maße und Krümmung seiner Betonschalen. Tagsüber leitet er die geerbte Baufirma, seit der Enteignung als von der Belegschaft gewählter Chef. Gefragt sind vor allem Kuppelbauten für Planetarien. Am Feierabend tüftelt er an Konstruktionen mit mehrfach gekrümmten Flächenschalen. Seine Entwürfe sind stark vom traditionellen Schiffbau und von seiner Erfahrung als Segler beeinflusst. Aus Materialien wie Sand, Fischernetzen und Segelstoffen baut er Modelle und experimentiert damit so lange, bis er die optimale Form gefunden hat.

Eine der größeren Versuchsschalen fungiert heute als Buswartehäuschen. Das quadratische Betonsegel steht auf zwei heruntergebogenen Ecken, die mit überdimensionierten Zaungittern gegen übermütige Passanten gesichert sind. Aber der Reiz ist groß; im Rausch haben schon ganze Hochzeitsgesellschaften die Platte überquert."

1968 baut Ulrich Müther eine Dachkonstruktion aus drei aneinander stoßenden Betonschalen für den "Teepott", ein Restaurant in Warnemünde. Die Decke des Innenraums wölbt sich hell und weit über einer Fläche von 1200 Quadratmetern. Mit solchen mehrfach gekrümmten Schalentragwerken wird Ulrich Müther auch ohne Parteibuch reich und berühmt. Der Rüganer "Landbaumeister" arbeitet in Binz weit ab vom Schuss, aber seine Stadthallen, Restaurants, Kirchen und Schwimmbäder kennt jeder DDR-Bürger. Seine Planetariumskuppeln, Pilzdächer, Faltschalen und Bobbahnen lassen sich bis nach Libyen und - gegen 10000 VW Golf - auch in die Bundesrepublik verkaufen.


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mare No. 39

No. 39August / September 2003

Von Uta von Debschitz, A. Dorfmüller und A. Kröger

Uta von Debschitz, Jahrgang 1964, ist Architektin und studiert Kulturjournalismus an der UdK Berlin. Der "Grandseigneur des Schalenbaus" bewirtete sie charmant auf seinem Schiff im Hafen von Saßnitz.

Die Hamburger Fotografen Andreas Dorfmüller und Andreas Kröger haben sich auf Architekturfotografie spezialisiert. In mare No. 31 war ihre Arbeit über die Hafencity Hamburg zu sehen.

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Vita Uta von Debschitz, Jahrgang 1964, ist Architektin und studiert Kulturjournalismus an der UdK Berlin. Der "Grandseigneur des Schalenbaus" bewirtete sie charmant auf seinem Schiff im Hafen von Saßnitz.

Die Hamburger Fotografen Andreas Dorfmüller und Andreas Kröger haben sich auf Architekturfotografie spezialisiert. In mare No. 31 war ihre Arbeit über die Hafencity Hamburg zu sehen.
Person Von Uta von Debschitz, A. Dorfmüller und A. Kröger
Vita Uta von Debschitz, Jahrgang 1964, ist Architektin und studiert Kulturjournalismus an der UdK Berlin. Der "Grandseigneur des Schalenbaus" bewirtete sie charmant auf seinem Schiff im Hafen von Saßnitz.

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