Mit den Wellen raufen

Mit gerade 21 Jahren schwamm Mercedes Gleitze als erste Britin durch den Ärmelkanal. Das machte sie zur Berühmt­heit – und zu einer der ersten Werbeikonen weltweit

Als Mercedes Gleitze im Frühsommer 1922 in Dover auftaucht, ist sie unbekannt. Zu Beginn der Saison bereiten sich in der Hafenstadt mit ihr noch acht weitere Schwimmer vor, die den Ärmelkanal überqueren wollen. Die Zeitungen diesseits und jenseits des Atlantiks berichten seit Kurzem mit Verve über die Versuche der Aspiranten und versetzen die Öffentlichkeit in ein regelrechtes Kanalfieber. Schwimmen ist auf dem besten Weg, zum Massensport zu werden, und auch dank immer neuer Rekorde berühmter Athleten wie Johnny Weissmuller en vogue, der in jenem Jahr als Erster 100 Meter unter einer Minute krault. Die Ärmelkanalquerung aber gilt in den 1920er-Jahren als der Olymp dieses Sports wie später unter Bergsteigern die Besteigung des Mount Everest: David im Kampf gegen Goliath. Seit der Kapitän und passionierte Schwimmer Matthew Webb es 1875 als Erster von Küste zu Küste geschafft hat, versuchen immer wieder einzelne Sportler, es ihm nachzutun: Seeleute, Soldaten, Abenteurer und Stuntmen, auch einzelne Frauen wie die australische Showschwimmerin Annette Kellermann. Geschafft haben es aber bislang erst zwei Männer: Kapitän Webb und im Jahr 1911 der Olympiaschwimmer Thomas William Burgess. Und nun eine 21-jährige Sekretärin aus London?

Mercedes Gleitze ist 1,57 Meter klein und 51 Kilogramm leicht, die Zöpfe hat sie schneckenförmig zusammengesteckt. Sie fragt Ortskundige nach der Tide und gefährlichen Strömungen, sucht ein Begleitboot und Ratschläge bei anderen Schwimmern. Sie hat weder einen namhaften Trainer noch viel Zeit, sich auf den Meeresmarathon vorzubereiten – sie arbeitet ja von Montag bis Samstag in der Londoner City. Nur sonntags kann sie zwei, drei Stunden in der Themse trainieren.

Zu den Kanalschwimmern zählen viele Amerikaner, fast alle sind Profis, sie können sich dank ihrer Sponsoren auf den Sport konzentrieren. Doch Gleitzes Wille ist ebenso erstaunlich wie ihr Selbstvertrauen. Schon als Teenager dachte sie, sie könne die See bezwingen.

Geboren in Brighton als Tochter eines deutschen Einwanderers und einer englischen Lehrerin, hat sie einige Jahre bei den Großeltern in Bayern verbracht. Als die Familie sich dort dauerhaft niederließ, war ihre Sehnsucht nach England und dem Meer so groß, dass sie einen Fluchtplan schmiedete: Die 17-Jährige wollte sich zu Fuß nach Ostfriesland durchschlagen, um erst nach Helgoland und von dort weiter nach England zu schwimmen. Sie schaffte es immerhin bis Wangerooge.

„Ich hatte so etwas noch nie zuvor versucht, aber ich war zuversichtlich, dass ich mein Ziel erreichen würde“, schreibt sie in ihren Erinnerungen. „Erst später wurde mir klar, wie gefährlich das war und dass nur die Vorsehung mich vor dem Tod bewahrt hatte.“ Die Eltern, froh, dass die Tochter noch lebt, erlaubten ihr, von nun an arbeiten zu gehen, um Geld für ein Ticket nach England zu verdienen.

Immer mehr junge Frauen bestreiten Anfang der 1920er-Jahre ihren Lebensunterhalt in Metropolen wie London allein. Mercedes Gleitze aber entwickelt in dieser Zeit, befeuert vom Hype um die Kanalquerung, eine Vision: Sie will professionelle Langstreckenschwimmerin werden, weil das Schwimmen ihr im Blut liegt. „Es gibt kein schöneres Gefühl als dieses stille Glück, das ich vor einer Rauferei mit den Wellen empfinde, die nach mir rufen. Wenn man liebt, hat man keine Angst“, sagt sie in einem Interview. Dafür nimmt sie einiges in Kauf: Krämpfe, Verbrennungen durch Feuerquallen, die bleierne Müdigkeit. Das Salzwasser quält sie mit schrecklichem Durst und lässt die Zunge anschwellen. Bei ihrem ersten Versuch 1922, die rund 34 Kilometer lange Strecke durch die Meerenge zu schwimmen, gibt sie wegen starker Schmerzen in der Schulter auf. Bei einem späteren Versuch muss sie gegen meterhohe Wellen ankämpfen. Einmal werden sie und ihr Begleitboot um ein Haar von einem Dampfschiff überfahren. Das Schlimmste ist die Kälte. Wie die meisten Langstreckenschwimmer bedeckt sie ihre Haut und den Badeanzug mit einer Paste aus Olivenöl und Schweineschmalz, doch sie hält die Kälte des Wassers, das auch im Sommer selten wärmer als 16 Grad wird, kaum ab.

Mehrmals muss sie mit einem Seil eingefangen werden wie ein Pferd, weil sie vor Erschöpfung beinahe ertrinkt, aber nicht aufgeben will. „Eine Ausdauer wie ihre habe ich nicht einmal bei den stärksten Männern erlebt“, sagt ihr Bootsführer Harry Sharp. 1927 hat sie sieben Niederlagen hinter sich und kaum noch Geld. Weitermachen kann sie nur, weil Sharp ihr seinen Lohn stundet. Um mehr trainieren zu können, hat sie im Juli ihren Job aufgegeben, sie braucht jetzt dringend einen Erfolg. In diesem Jahr lobt die britische Zeitung „News of the World“ ein Preisgeld für die erste Britin aus, die es durch den Ärmelkanal schafft. Im Jahr zuvor hatte die US-Olympionikin Gertrude Ederle triumphiert, als erste Frau überhaupt die Meerenge zu queren – in nur 14 Stunden und 32 Minuten. Eine Amerikanerin siegt vor der eigenen Haustür. 1000 Pfund für die Britin, die schneller ist als Ederle!

Am 7. Oktober 1927 startet Gleitze um 2.55 Uhr morgens im französischen Cap Gris-Nez, diesmal schwimmt sie die umgekehrte Route. Auch tagsüber kann sie stellenweise weder ihr Ziel noch ihr Begleitboot sehen, weil dichter Nebel herrscht. Sie leidet unter Durst, und ihr ist so übel, dass sie kaum feste Nahrung zu sich nehmen kann. Während der Tortur nimmt sie nur ein paar Trauben und mit Honig gesüßten Tee zu sich. Doch dann, nach 15 Stunden und 15 Minuten, erreicht sie das englische Festland – langsamer als Ederle. Aber sie ist die Einzige und bekommt für den Achtungserfolg 500 Pfund.

Für ihre Landsleute ist sie die Siegerin der Herzen. Die Presse schwärmt für die hübsche Frau mit den lockigen Haaren und den blauen Augen, sie lieben die Aufsteigergeschichte, die sie verkörpert. „Englische Sekretärin schwimmt durch Ärmelkanal!“ titelt auch der „Boston Daily Globe“ in den USA. Als eine Konkurrentin behauptet, sie habe die Strecke in nur 14 Stunden und zehn Minuten bewältigt, und kurz darauf als Lügnerin enttarnt wird, trägt Gleitze das nur noch mehr Sympathien zu. Sie will, obwohl das Meer jetzt elf Grad kalt ist, die Strecke am 21. Oktober noch einmal schwimmen, um ihr Können unter Beweis zu stellen.

Der Uhrenhersteller Rolex nutzt die Aufregung und bietet ihr einen Werbedeal an. Bei ihrem „Verteidigungsschwimmen“ trägt sie das wasserdichte Oyster-Modell an einem Band um den Hals, wie Rolex bald in einer ganzseitigen Anzeige auf dem Titelblatt der Londoner „Daily Mail“ zeigt (mare No. 28). Zwar muss Gleitze wegen der Kälte diesmal nach zehn Stunden aufgeben, trotzdem wird sie zu einer der ersten Sport- und Werbeikonen ihrer Zeit. Von nun an sieht man sie in Zeitungen, Magazinen und Nachrichtenfilmen im Kino. Um ihren Lebensunterhalt und Geld für die Wohltätigkeitsstiftung zu verdienen, die sie gründet, schließt sie Werbeverträge mit Nestlé, Lipton und Herstellern von Whisky und Bademode ab. Schon der Amerikaner Henry Sullivan, der 1923 nach Burgess als Dritter den Ärmelkanal durchschwamm, lobte in Zeitungsanzeigen für Milch die stärkende Wirkung des Nahrungsmittels. Gleitze aber gehört zu den ersten Sportlerinnen und Sportlern, die Werbung in größerem Stil nutzen. 

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mare No. 139

mare No. 139April / Mai 2020

Von Silvia Tyburski

Silvia Tyburski, Jahrgang 1976, war bei einer Recherche über die Silvesterfeiern in Edinburgh versucht, sich mit den Teilnehmern des Badespektakels „Loony Dook“ in den Firth of Forth zu stürzen. Am Ende hat sie aber gekniffen.

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Vita Silvia Tyburski, Jahrgang 1976, war bei einer Recherche über die Silvesterfeiern in Edinburgh versucht, sich mit den Teilnehmern des Badespektakels „Loony Dook“ in den Firth of Forth zu stürzen. Am Ende hat sie aber gekniffen.
Person Von Silvia Tyburski
Vita Silvia Tyburski, Jahrgang 1976, war bei einer Recherche über die Silvesterfeiern in Edinburgh versucht, sich mit den Teilnehmern des Badespektakels „Loony Dook“ in den Firth of Forth zu stürzen. Am Ende hat sie aber gekniffen.
Person Von Silvia Tyburski