Minamata

Das Gift der Chisso-Fabrik tötet 1000 Menschen und macht viele mehr zu Behinderten. Ein amerikanischer Fotograf alarmiert die Welt

Ein Foto wie sein Leben. Geprägt vom Schmerz und der Sehnsucht nach Erlösung. Die zwölfjährige Tomoko Uemura, schwerstbehindert, die Augen ins Leere verdreht, wird von ihrer Mutter Ryoko im Wäschezuber gebadet. Ein Fenster spiegelt sich im Wasser und rahmt präzise die missgebildete Hand des Mädchens. Der Hintergrund des Bildes versinkt nach Smithscher Art, kunstvoll abgedeckt, in tiefem Schwarz. Anklage und zugleich Plädoyer für die selbstlose Liebe als letzte Chance der Menschheit. Nach Ansicht des Smith-Biografen Jim Hughes eines der tiefgründigsten Fotos, die je gemacht wurden. Anders als Smith’ Leben: ein perfektes Foto.

Tomoko ist eines von Tausenden Opfern der Chisso Corporation, die jahrzehntelang quecksilberhaltigen Schlamm in die Bucht vor dem südjapanischen Fischerort Minamata pumpte. Vier Jahre lang hat Eugene Smith hier Anfang der siebziger Jahre eine der schlimmsten Umweltkatastrophen der Industriegeschichte dokumentiert. Das Bild von Tomoko ist zu einer Ikone geworden, eine Anspielung auf den gekreuzigten Christus, ein in die Zukunft weisendes, zeitloses Bild, oft verglichen mit Michelangelos Pietà. Als Smith auf den Auslöser drückt, sagt er später, hat er geweint.

Für Cartier-Bresson war Smith der „größte Fotojournalist dieses Jahrhunderts“. Dabei wollte Smith nie, dass man in ihm einen großen Fotografen sah. Er wollte das Publikum zum Nachdenken animieren. Andere wollten ihre Bildsprache, Smith stets die Welt verbessern. Er hasste Museumsausstellungen, in denen, hübsch gerahmt, Bild neben Bild hängt, damit jedes in den Rang eines Kunstwerks erhoben wird. Seine Bilder, sagte er, sollten das Leben darstellen. Die Szene im Bad – eines von Smith’ meistveröffentlichten Bildern – darf heute nicht mehr gedruckt werden, weil seine Exfrau die Rechte an die Familie des Mädchens zurückgab. Die möchte, dass ihre Tochter, die 1977 an einer Lungenentzündung starb, nach Jahrzehnten medialer Präsenz nun ihren Frieden findet. Es gibt einen Schnappschuss von Smith als Baby, ähnlich gehalten von seiner Mutter. Nur dass sie nach Ansicht seines Biografen Jim Hughes bei Weitem nicht die Liebesfähigkeit von Ryoko Uemura hatte. So schließt das Bild einen Zirkel und komplettiert gewissermaßen sein Leben.

1918 wird Smith im US-Bundesstaat Kansas geboren. Die Wurzeln seiner Ernsthaftigkeit und das, was er „das Interesse am menschlichen Schicksal“ nennt, werden möglicherweise gelegt, als er im Alter von zehn Jahren nach einem Unfall ein halbes Jahr ans Bett gefesselt ist und Unmengen historischer Romane verschlingt. Später will Smith Konstrukteur von Flugzeugen werden, besucht Fotografen, um sich Aufnahmen von Flugshows zu besorgen, und merkt schnell, dass seine Liebe für das Fotografieren größer ist als für das Zeichenbrett. Im Alter von 16 Jahren verkauft er sein erstes Bild an die Lokalzeitung. „Er war niemals ohne Kamera“, erinnert sich Schulfreund Hubert Stevens, „und er hat viele Leute damit irritiert.“ Er fotografiert die Nachbarin beim Wäscheaufhängen. Basketball in der Highschool. Autounfälle. Sandstürme.

Der Mittlere Westen der USA leidet in dieser Zeit unter einer großen Dürre. 1936, nach der Pleite seines Getreidehandels, erschießt sich sein Vater mit einer Schrotflinte. Die Art, wie die Tageszeitung darüber berichtet, widert Smith an. Doch kommt er für sich zu dem Ergebnis, dass auch, wenn ein Beruf nicht aus sich selbst heraus der Ehrlichkeit verpflichtet ist, es doch immer individuell möglich bleibt, die Wahrheit zu berichten. Deshalb bleibt er künftig so wählerisch bei der Auswahl seiner Bilder, zerstört oft frühere Werke, von denen er glaubt, sie seien nichts wert.

Nach einem abgebrochenen Fotostudium geht Smith 1937 nach New York und arbeitet für „Newsweek“. Seiner Mutter schreibt er, er gebe sich fünf Jahre, bis dahin wolle er „einer der großen Journalisten mit der Kamera“ sein. Er bleibt im Zeitplan. Mit 19 bekommt er eine Anstellung bei „Life“, ein Traum für einen jungen Fotografen, eigentlich. Doch zwei Jahre später kündigt er, weil er nicht länger Lust hat, „The Butlers’ Ball“ oder „Sadie Hawkins Day“ zu fotografieren. Bildredakteur Wilson Hicks schreibt ihm: „Tausende junger Fotografen würden sich den rechten Arm amputieren lassen, um die Chance zu erhalten, die wir Ihnen bieten.“ Wenig später bereut Smith seine Kündigung. Er hat nicht mit dem Kriegseintritt Amerikas gerechnet. Vergeblich versucht er in die Equipe der Marinefotografen aufgenommen zu werden. Er schlägt sich als Freelancer für die Zeitschrift „Parade“ durch und berichtet für die Ziff-Davis Publishing Company vom japanisch-amerikanischen Krieg im Südpazifik. Zu seiner Enttäuschung darf er zunächst nur auf Transportschiffen fotografieren. Erst ab 1944 ist er durch Vermittlung eines Freundes wieder bei „Life“ unter Vertrag und darf an die Front: Sein Grundsatz, nie in Deckung zu gehen, trägt schnell zur Bildung seiner Legende bei.


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mare No. 58

No. 58Oktober / November 2006

Von Andreas Wenderoth und W. Eugene Smith

Da Smith’ Exfrau Aileen auf Mails nicht antwortete, fuhr der Berliner Reporter Andreas Wenderoth, 41, statt nach Japan nach Hannover, wo der Fotografieprofessor Rolf Nobel eine umfangreiche private Smith-Sammlung unterhält.

William Eugene Smith reiste nach dem Zweiten Weltkrieg mehrmals nach Japan, wo er auch Aileen kennenlernte. Gemeinsam veröffentlichten sie 1975 die Ergebnisse seiner Recherchen in dem Buch Minamata – The Story of the Poisoning of a City. Das Porträt Smith’ hat sein Freund Henri Cartier-Bresson 1960 in New York aufgenommen.

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Vita Da Smith’ Exfrau Aileen auf Mails nicht antwortete, fuhr der Berliner Reporter Andreas Wenderoth, 41, statt nach Japan nach Hannover, wo der Fotografieprofessor Rolf Nobel eine umfangreiche private Smith-Sammlung unterhält.

William Eugene Smith reiste nach dem Zweiten Weltkrieg mehrmals nach Japan, wo er auch Aileen kennenlernte. Gemeinsam veröffentlichten sie 1975 die Ergebnisse seiner Recherchen in dem Buch Minamata – The Story of the Poisoning of a City. Das Porträt Smith’ hat sein Freund Henri Cartier-Bresson 1960 in New York aufgenommen.
Person Von Andreas Wenderoth und W. Eugene Smith
Vita Da Smith’ Exfrau Aileen auf Mails nicht antwortete, fuhr der Berliner Reporter Andreas Wenderoth, 41, statt nach Japan nach Hannover, wo der Fotografieprofessor Rolf Nobel eine umfangreiche private Smith-Sammlung unterhält.

William Eugene Smith reiste nach dem Zweiten Weltkrieg mehrmals nach Japan, wo er auch Aileen kennenlernte. Gemeinsam veröffentlichten sie 1975 die Ergebnisse seiner Recherchen in dem Buch Minamata – The Story of the Poisoning of a City. Das Porträt Smith’ hat sein Freund Henri Cartier-Bresson 1960 in New York aufgenommen.
Person Von Andreas Wenderoth und W. Eugene Smith