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Empfehlungen aus Literatur, Musik, Film und Kulturleben

Schiffe, Menschen, Meergewalten
Drei Jahrzehnte Seefahrt und erlebte Weltgeschichte. Eine Ausstellung in Kiel zeigt das Werk des Bordfotografen der „Bremen“

Keine Frage, der Mann schläft. Hingegossen lümmelt er in einem Sessel, vor ihm ein halbvolles Bierglas. Hinter ihm eine Tafel mit der Aufschrift: „Glückliche Fahrt ins neue Jahr 1933 – S.S. ,Bremen‘“. Spott oder Ahnung?

Der Fotograf Richard Fleischhut ist zu diesem Zeitpunkt seit zehn Jahren Bordfotograf des Norddeutschen Lloyd, dessen Flaggschiff die „Bremen“ ist. Zur See gekommen ist er bereits 1905, wenn auch in anderer Mission: Als Konditor soll er auf der „Kronprinz Wilhelm“ die Gäste verwöhnen. Doch die Kamera hat er mit dabei, und es dauert nicht lange, da spricht man ihn an, weil man einen künstlerisch ansprechenden Beweis der Überfahrt will. Am Ende absolviert Fleischhut im Auftrag des Lloyd mehr als 150 Reisen. Er ist dabei, als die „Bremen“ im Juli 1929 auf ihrer Jungfernfahrt das Goldene Band erringt. Er fährt nach China, Japan, Südamerika, Spitzbergen; an Bord stets sein Labor, Helfer kümmern sich um Abzüge.

Zwei Jahre nach jenem Schnappschuss von der glücklichen Silvesterfahrt wird Fleischhut auf der „Bremen“ das Hissen der Hakenkreuzfahne ablichten und hernach auf der Rückseite des Abzugs notieren: „Damit war unser Schicksal besiegelt.“ Für ihn ist wiederum zwei Jahre später der Dienst auf der „Bremen“ passé. Den Machthabern missfällt der angeblich jüdische Vorname seiner Frau Florentine. Aber mehr noch seine früheren, oft gedruckten Porträts unliebsam gewordener Prominenter, die einst so selbstverständlich seewärts zwischen Deutschland und Amerika pendelten: Marlene Dietrich, Buster Keaton, Vicky Baum, nicht zuletzt der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt. Fleischhut muss auf die „Columbus“ wechseln, das damals größte Schiff der Flotte. Und fotografiert weiter, bleibt bei seinem am Bauhaus geschulten Blicken auf Schiffe, Menschen, Meergewalten.

Die Wirklichkeit ist handgreiflicher. Seit September 1939 sitzt die „Columbus“ im mexikanischen Veracruz fest, wird von den Alliierten an der Weiterfahrt gehindert. Fleischhut hat tags zuvor seinen Geburtstag gefeiert, da versenkt die Crew am 19. Dezember auf Befehl aus Berlin hin ihr Schiff. Fleischhut sitzt in einem der Beiboote, und er drückt auch jetzt auf den Auslöser und dokumentiert so auch eine persönliche Katastrophe: Mit dem Schiff sinkt sein Archiv samt 32 000 Negativen in die Tiefe.

Fleischhut wird interniert, erreicht nach einer Odyssee über Italien, Algerien und Südfrankreich im Herbst 1940 wieder Bremen, wo er von vorne anfängt. Als Bordfotograf wird er jedoch nie wieder arbeiten, und so passt es, dass er am Ende in einem kleinen Ort in Nordhessen und damit weit vom Meer entfernt im Juni 1951 stirbt.

Wenn er nun, mehr als 50 Jahre nach seinem Tod, wiederentdeckt wird, dann öffnet sich eine Schatztruhe mit mehreren Fächern: Sie birgt eine Fülle an Dokumenten über die Zeit der bürgerlichen Salons auf den Passagierdampfern. Da sind fotografische Berichte von den Anfängen des Tourismus, es geht an Land und weiter in fremde Kulturen. Nicht zuletzt aber überzeugt er mit seinen grafisch-strengen Aufnahmen von menschenleeren Sturmwelten und abstrakt aufragenden Masten, von denen eine Spur zu einem Detail seiner Biografie führt: Ursprünglich wollte er Architekt werden. Frank Keil

„Mit der Kamera in die Welt – Richard Fleischhut (1881–1951), Photograph“, Ausstellung im Stadt- und Schifffahrtsmuseum Kiel bis 5. März 2006; danach im Ostfriesischen Landesmuseum Emden, 19. März bis 20. Mai 2006.

Zur Ausstellung erscheint ein gleichnamiger Katalog:

Hermann Haarmann und Ingrid Peckskamp-Lürßen (Hrsg.), Verlag Kettler, Bönen, 2005, 296 Seiten, Museumsausgabe 29,90 Euro, Buchhandelsausgabe 36,50 Euro


Die schlaflose Nacht des Kommodore
Die letzte Schlacht des Weltkriegs ist geschlagen, die Kapitulation unterzeichnet. Da werden zwei Deserteure noch zum Tod verurteilt

„Das Meer lebt. Das Meer hat einen guten Blutdruck von den vielen Schiffen und Toten, die auf seinem Grund liegen.“ Das Meer, die Ostsee, „wird nicht müde zu erzählen“, auch nicht von den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs.

5. Mai 1945. In der Geltinger Bucht beginnt die Aktion „Regenbogen“ der deutschen Kriegsmarine, bevor der mit Feldmarschall Montgomery ausgehandelte Waffenstillstand greift. Ein vierstündiges Drama mit „fünfzig Akten“: Frühmorgens um 4.10 Uhr sinkt das erste Boot in die Tiefe. Zuletzt verschwindet „U-999“ mit aufgerichtetem Bug. Insgesamt 50 Boote gehen auf Grund, orgelnd und stöhnend von der entweichenden Luft, die unter dem Druck des Wassers durch Luken und Löcher pfeift. Sie sollen nicht in die Hände der Alliierten fallen.

In seinem Roman „Steilküste“ erzählt Autor Jochen Missfeldt diese Szene aus der Beobachtung seines damals vierjährigen Protagonisten Gustav Hasse. Im Traum, den der später 63-Jährige im hinteren Teil des Buches noch immer träumt, tummeln sich U-Boote: „Unter Wasser holen sie Schwung, sie schießen heraus, sie lassen sich fallen, sie stoßen Wasserfontänen aus dem Schnorchel, sie brüllen ähnlich wie die kleinen braunen Kühe an der Steilküste, die da oben Gras fressen, wiederkäuen und mit ihren violetten Kuhaugen den Ostsee-Horizont absuchen.“

Doch das ist nur die Ouvertüre; eigentliches Thema des Romans ist das Schicksal zweier deutscher Marinesoldaten im besetzten Dänemark. Ehrmann und Fredy begehen Fahnenflucht, weil es sie statt in den Endkampf nach Hause zieht. Doch sie rennen in ihr Verderben. Die dänische Miliz greift die beiden auf und übergibt sie der Wehrmacht. Eingesperrt in einer finsteren Schiffskammer unterhalb der Wasserlinie, werden Ehrmann und Fredy in eben jene Geltinger Bucht gebracht. In Sichtweite der Steilküste stellt man sie vor ein Marinekriegsgericht. Noch einen Tag nach der bedingungslosen Kapitulation wird das Urteil gefällt: Tod durch Erschießen. Der Gerichtsherr, der deutsche Kommodore, der das Urteil noch unterschreiben muss, verbringt eine schlaflose Nacht. Die letzten Schlachten sind längst geschlagen, doch mit allen Mitteln soll die Disziplin der Marine aufrecht erhalten werden.

Der 1941 geborene Autor war Kampfpilot; die militärische Welt ist ihm vertraut. Nach seinem hoch gelobten Roman „Der gespiegelte Himmel“ rekonstruiert er hier nicht nur das Ende der NS-Kriegsmarine, sondern auch die aus heutiger Sicht absurde Vorstellung von Disziplin, die sich selbst in der Kapitulation noch nicht aufgeben will. Missfeldt entwickelt seinen Roman auf der Basis realer Vorbilder, hat mit Zeugen gesprochen, Aufzeichnungen von Matrosen gelesen und dennoch eine eigene Erzählwelt geschaffen, die zwischen Fakten und Fiktionalem wechselt. Laue Brisen am Meer, Grütze, Kuhaugen und Wellenbewegungen – mit solchen Skizzen zeichnet der Autor auch eine norddeutsche Charakterwelt jenseits simpler Moral. Das an sich Unbegreifliche gewinnt so eine neue Dimension in der Landschaft hoch oben im Norden: die Natur mit ihrer Unberührtheit gegenüber Tod und Untergang als Kontrapunkt zu dem menschlichen Drama – seine Zerstörung durch sich selbst. Roland Brockmann

Jochen Missfeldt: „Steilküste“, Roman, Rowohlt, 2005, 305 Seiten, 19,90 Euro


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 53. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 53

No. 53Dezember 2005 / Januar 2006

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