Lietzows Leben

Mitte achtzig ist der Fischer, und er fährt jeden Tag hinaus auf die Ostsee. Warum? Weil er es kann

Heinz Lietzow ist ein kleiner, sehr gebeugter Mann von bald 86 Jahren. Ließen sich dauerhafte Spuren ins Wasser furchen, die Geltinger Bucht nahe Flensburg und dem dänischen Sonderburg wäre zerschrammt vom Kiel seiner Boote. Seit 40 Jahren fischt er Hering, Dorsch und Butt aus diesen Gründen, nur einen knappen Fluch unter Land und nahe einer lehmigen Wulst, die sich auf Seekarten als Klippe brüstet. Hering, Dorsch und Butt im ständigen Fier und Hiev seiner Netze. Aal nicht mehr, der ist verschwunden, seit die Kormorane geschützt werden, "die schlimmsten Geschöpfe auf Gottes Erden". Lietzows Schimpf ist leise, sein Reden ein exotischer Akzent in dieser Gegend: So sprach man vor Zeiten in Nickelswalde, Mikoszewo heute, Polen.

Das Denkmal, das es einmal von ihm geben wird, muss ihn so zeigen: der Bug eines Kahns, darüber Heinz Lietzow, ein Netz in den Händen, und die Hände werden das Auffälligste sein. Kloben sind sie, grün und blau gequollen von den Wassern der Danziger Bucht, von wo er herstammt, aufgedunsen von dem Salz der Geltinger Bucht, die er seit nunmehr einem halben Leben befährt.

Er trägt die immer gleiche Schirmmütze im Sommer, winters den wollenen Pudel. Ewig auch seine Watstiefel, festgezurrt am Unterleib mit zerfaserten Stricken, darüber der grobe Pulli oder die Wattejacke. Zeit und Wind haben sein Gesicht aufgewühlt, der Zug der Netze krümmte die Gestalt. Doch erinnern wird man sich vor allem an diese Hände. Spürt er sie noch? Manchmal wohl, dann mag es selbst die Heringe zwicken vor Kälte, dann und nur dann streift er sich Gummihandschuhe über. Aber was taugen die, wenn er das Netz fühlen muss, damit es wirksam ins Wasser gleitet? Wie soll er so die Fische aus den Maschen pulen, das Garn entwirren, wie die Silberlinge filetieren, die ungeduldige Kundschaft schon am Ufer fordert? Nein, Handschuhe nur im Notfall.

An Morgen, die noch halbe Nächte sind, stemmt sich der alte Mann aus dem Bett, lässt die Frau den Kaffee brühen. Dann packt er sein Zeug auf die rollende Gehhilfe, einem durchgesägten Einkaufskorb ähnlich, er schlurft an den Strand. Bis vor kurzem noch tat's ein Minifahrrad, nach einem Knochenbruch in der Waschküche im letzten Dezember also die Stütze. Die Nase tropft, kaum dass die Räder drehen, ein schleppender Gang, der Atem fliegt.

Die Fährnisse an Land sind erheblich, ein großer Stein, bremsender Sand, kräftezehrende Schrägen. Er biegt in den "Fischer-Lietzow-Weg", der Name Regieeinfall einer Kölner Fernsehshow, auch den Bürgermeister hatte man ins Studio gebracht, seinerzeit. Heinz Lietzow erinnert sich gern daran - dankbar, verwundert weiterhin, denn man ließ ihn außerdem in einem Prachthotel wohnen, umsonst. Zehn Jahre ist es her, Lietzow war erst 75.

Er ist noch immer die Attraktion des Ortes, neue sind seitdem nicht dazu gekommen in der Gegend mit seltsamen Namen wie Habernis und Norgaardholz und Steinberghaff, das natürlich Steinbergkaff heißt, wenn man jung ist und nur weg will. Die Pensionsgäste fragen zuerst nach ihm; zu besichtigen ist er am ganz frühen Morgen, besser noch nach dem Abendbrot. Lietzow antwortet jedem, sowieso scheint seinem Wesen nichts ferner als das Grobe, Schroffe. Er hat es schriftlich: Untauglich sei er zur soldatischen Anleitung - er sei "zu nett". Das war unter Dönitz. Lediglich bei ganz blöden Fragen wird Lietzow spitz. "Was macht eigentlich dieser komische uralte Fischer, den ich vor Jahren hier mal getroffen habe?", fragte einer am Strand, Lietzow schob gerade das Boot in die Wellen. "Ich weiß nicht", antwortete er, "wenn er damals schon so alt war, ist er jetzt wohl tot."

Das Boot verzurrt an der Winde, Wolken wie drohende Fäuste, fiese Böen. Westhimmel. Doch er muss raus, in ein paar Stunden stehen sie wieder am Ufer, die Schüsseln und Eimer in der Hand, Stammkundschaft. Die kriegt bevorzugt, nicht der Platz in der Reihe zählt; die Touristen nehmen es hin. Filetiert wird noch am Strand. Die Hände wärmt heißes Wasser aus einem Eimer, der in einem Eimer steckt, dazwischen isolierende Zeitungen - Lietzows Erfindung. Dann ist auch Gerda dabei, seine Frau, 80 im März. Ist sein Morgenkaffee gekocht, geht sie putzen beim Doktor. Sie wird fertig, wenn er ans Ufer hält.

Westwind, ein hinterhältiger Bursche. Vor Tagen schlug die Windenkurbel aus, sie verfehlte knapp den Kopf, traf ihn am Arm. Seine Leiden sind landgemacht, die Sache in der Waschküche oder der Herzanfall vor ein paar Jahren, der ihn zu Hause fällte. Nie ist er über Bord gegangen, ein Mal nur ins Wasser gekippt, aber da stakte er schon durch den Schlick, eine Böe hatte das Boot gepackt und gegen ihn geworfen. Undenkbar, dass es ihn draußen erwischt - das Meer ist sicherer Grund.


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mare No. 39

No. 39August / September 2003

Von Maik Brandenburg und Andreas Große

Maik Brandenburg, Jahrgang '62, ist mare-Redakteur für Politik und Gesellschaft.

Andreas Große, geboren 1959, lebt als freier Fotograf in Steinberg. Das Leben des Fischers dokumentierte er über Monate buchstäblich aus nächster Nähe - Heinz Lietzow ist ein Nachbar.

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