John Neumeier, Fin Greenall, Bertrand Piccard, Andreas Hoppe, Peter Altmeier

JOHN NEUMEIER
Amerikanischer Choreograf und Ballettdirektor

„Die Kleine Meerjungfrau“ oder Wie man die Unterwasserwelt in ein Ballett giesst
Anlässlich des 200. Geburtstags von Hans-Christian Andersen wurde ich gebeten, ein Ballett nach seinem Werk zu choreografieren, das im neuen Opernhaus in Kopenhagen gezeigt werden sollte. Ich entschied mich für „Die Kleine Meerjungfrau“. Mich faszinierten daran vor allem zwei Dinge: Zunächst beschreibt Andersen eine sehr ungewöhnliche Form der Liebe. Es ist eine wunderschöne Geschichte über die Möglichkeit, jemanden unsterblich zu lieben, ohne dass dieser einen zurückliebt. Der zweite Aspekt, der mich fesselte, war Andersens metaphysische Beschreibung von Sehnsucht, vom Nichtzufriedensein mit dem, was man hat – sei es auch so schön wie die Welt der Ozeane.

Ein großartiges, komplexes Märchen – doch wie ein Ballett daraus machen?
Für mich ist die Welt des Meeres eine Idealwelt – in sich perfekt, die völlige Harmonie der Natur. Ich wollte eine Unterwasserwelt darstellen, von der man sagt: O, wie schön muss es sein, dort zu leben. Die Meerjungfrau müsste in ihrer Welt nicht leiden, weil sie alles hat, was eine Meerjungfrau glücklich macht. Aber sie strebt nach einer für sie unerreichbaren Welt. In der Meerjungfrau steckt das Verlangen, eine fremde Welt zu entdecken, und der Mut, diese durch ihre Liebe tatsächlich zu erreichen.

Die Kleine Meerjungfrau kann sich einer ganzen Skala von Bewegungsmöglichkeiten bedienen: Sie ist erst eine Frau, die ohne Beine tanzt, die frei im Meer schwimmt. Dann aber entscheidet sie sich, ihre Flosse abzugeben, bekommt vom Meerhexer Beine, die sie nicht richtig bewegen kann, und sitzt schließlich im Rollstuhl. Bis sie sich doch in Spitzenschuhe zwängt und in einzelnen Szenen so wunderschön tanzt, dass es uns förmlich den Atem nimmt. Man fühlt: Ja, durch Liebe ist alles möglich. Auch wenn diese am Ende scheitert.

In meinem Ballett musste ich zwischen Schwanzflosse und menschlichen Beinen changieren. Als ich an der „Kleinen Meerjungfrau“ arbeitete, war ich mit dem Hamburg-Ballett auf Tournee in Japan. Im japanischen Kabuki- und Noh-Theater gibt es spezielle, aus dem Mittelalter stammende Hosen, die von bestimmten Charakteren in festgelegten Situationen getragen werden. In ihrer überlangen Form ändern sie das Körperbild des Tragenden. Mich beeindruckte dieses Kleidungsstück, weil es kein Illusionskostüm ist. In seinem Fließen wirkt es gleichzeitig streng, aber es bedarf einer bestimmten Technik, sich darin zu bewegen, wie im Spitzentanz. Ich lernte also von dem japanischen Theater.

Wenn eine Frau eine Schleppe oder ein überlanges Kleid trägt und dabei eine gute Figur abgeben will, muss sie lernen, sich dementsprechend zu bewegen. In unserem Fall war das noch schwieriger, weil die tänzerische Auseinandersetzung über die Füße geht und die Beinform verdeckt bleiben sollte. Ich ließ die Tänzerin also von anderen Tänzern in der Unterwasserwelt heben, damit sie auf ungewöhnliche Weise ihre Beine bewegen konnte – als sei sie unter Wasser. Dadurch entstand eine ganz andere körperliche Dimension.

Die kleine Meerjungfrau bezahlt für ihren Mut und ihre Liebe einen hohen Preis. Aus Liebe erleidet sie unendliche Schmerzen. Doch sie resigniert auch im Scheitern nicht. Am Ende bringt sie den Prinzen nicht um, sondern wird – weil sie ihn wirklich liebt – in eine höhere Welt transformiert. Aber sehen Sie doch am besten selbst. Die „Kleine Meerjungfrau“ ist ein Klassiker des Hamburg-Balletts und wurde in vielen Ländern gezeigt, so auch in Dänemark und China. Nicht zufällig Länder mit wunderschönen Küsten.

 

FIN GREENALL ALIAS FINK
Britischer Popmusiker

Ich kam am Meer, in Newlyn in Cornwall, zur Welt, heute steht ein Parkhaus, wo damals die Frauenklinik war, die in den späten sechziger Jahren Wellen von Hippies aufnahm, die wegen des Lichtes, des Wetters und der Abgeschiedenheit nach Cornwall pilgerten. Um eine Welle von Hippiebabys zu gebären, die zu einem Soundtrack aus den Schreien ihrer Mütter und dem Donnern der Wellen im Hafen das Licht der Welt erblickten. Meine Eltern erzählen mir, sie hätten mich gleich nach der Entlassung meiner Mutter aus dem Krankenhaus ans Meer gebracht – um mich einem Gefährten, einem Familienmitglied, einem Weisen, einem Lebenspartner vorzustellen. Von meinem ersten Moment im Freien an hatte ich Salz auf den Lippen.

Cornwall ist vom Meer umgeben. Man kann es nur in eine Richtung verlassen – nach Osten –, und wer sich nach Westen begibt, fällt hinter Lizard Point in den Atlantik, der für alle Ewigkeiten gnadenlos auf die Küste eindrischt. Die Welt kam wegen des Zinns nach Cornwall, es hätte keine Bronzezeit ohne dieses Metall gegeben. Für einen so kleinen Landkreis kann Cornwall auf eine stattliche Piraten-, Schmuggler- und Seefahrervergangenheit zurückblicken, das liegt an seiner abgeschiedenen Randlage. Die Welt ist voller Orts- und Nachnamen aus Cornwall – wenn Kapitänen auf ihren Entdeckungsreisen die Namen der Heiligen, Könige und Königinnen ausgingen, dann überließen sie das Taufen häufig den Seeleuten, Lotsen und Bootsleuten.

Meine frühesten Erinnerungen gehen zurück zum Meer, zum Sand, zu den Möwen. Meine Großmutter besaß eine Pension in St. Ives, wir als Familie liebten es dort vor allem im Winter – wenn keine Touristen da waren. Ich verbrachte einen großen Teil meiner Jugend an der Küste Bristols, im Winter wich ich den Wellen aus, im Sommer den Touristen auf meinem Skateboard, ich saß mit meinen Freunden an felsigen Stränden und starrte auf den gekrümmten Horizont – meine andere Großmutter und ich gingen gerne Arm in Arm die Küste entlang.

Ich erinnere mich, dass ich mich, als ich nach London gezogen war, oft verlief – mein Orientierungssinn war komplett außer Gefecht gesetzt – ich brauche das Meer, um mich zu orten. Ich brauche einen Punkt, an dem ich nicht weiterkomme, einen Punkt, an dem die Menschheit hilflos etwas unendlich viel Mächtigeres betrachtet als die Geschichte. Viele Male, wenn mir die Welt in London zu heftig wurde, nahm ich nach der Arbeit den Zug südwärts nach Brighton, ging vom Bahnhof südwärts zum Meer – stellte ihm Fragen, sprach mit ihm, schrie es an, dankte ihm und nahm dann den Zug direkt nach Hause. Ich musste mich einfach nur wieder erden.

Jedes Mal, wenn man das Meer betrachtet, ist es anders, unendlich anders, für immer. Es ist zeitlos, seelenlos, erbarmungslos – es ist die Zeit selbst. Alle meine liebsten Orte liegen am Meer, Buchten, Strände, Klippen – unzählige Mal habe ich diese Orte besucht, dort gesessen und dem Meer Fragen gestellt. Ich habe dort mit Geliebten gesessen, mit Familie, allein. Sicher, im Lauf der Jahre verändern sich die Fragen, ebenso wie meine Fähigkeit, mit den Antworten klarzukommen– aber das Meer urteilt nicht, es droht und lädt gleichermaßen ein. ...

 

Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 100. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 100

No.100Oktober / November 2013

Die Texte der Autorinnen und Autoren sind aus dem Jahr 2013.

John Neumeier (Jahrgang 1942) ist seit 40 Jahren Ballettdirektor und Chefchoreograf des Hamburg Balletts und damit dienstältester Ballettchef der Welt. 1963 engagierte ihn John Cranko an das Stuttgarter Ballett, wo er später zum Solisten avancierte und seine ersten Choreografien erarbeitete. In seinen Neuschöpfungen sucht Neumeier eigene Erzählstrukturen. Neumeier ist Träger vieler Preise, zuletzt wurde er mit dem Prix Benois de la Danse 2013 für sein Lebenswerk ausgezeichnet.

Finian „Fin“ Greenall (Jahrgang 1972), bekannt unter dem Spitz- und Künstlernamen Fink, musizierte seit seinen Teenagertagen in Wales und wandte sich zun chst der Ambient- und Trip-Hop-Szene zu, ehe er ins „ernste“ Fach der Singer-Songwriter wechselte. Der Gitarrist und Sänger veröffentlicht seit 2006 mit seinem Trio überwiegend „unplugged“.

Bertrand Piccard (Jahrgang 1958) stammt aus einer berühmten Familie von Weltrekordlern: Sein Großvater Auguste Piccard stieg 1932 mit einem Ballon in 16.201 Meter Höhe. Sein Vater Jacques Piccard tauchte 1960 in den Marianengraben in eine Tiefe von 10 916 Metern. Bertrand Piccard selbst umkreiste als erster Mensch die Erde in einem Ballon. Der Schweizer ist außerdem Psychiater in Lausanne.

Andreas Hoppe (Jahrgang 1960) absolvierte in den 1980er Jahren seine Schauspielausbildung an der Hochschule für Musik und Theater Hannover. Neben seinem Fernsehengagement als Krimidarsteller spielt Hoppe auch in Kinofilmen.

Peter Altmaier (Jahrgang 1958) ist Bundesumweltminister. Sein Vater war Bergmann, seine Mutter Krankenschwester. In den neunziger Jahren setzte sich Altmaier für eine Modernisierung des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts ein und kritisierte Roland Koch für den seiner Ansicht nach ausländerfeindlichen Wahlkampf.

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Vita

John Neumeier (Jahrgang 1942) ist seit 40 Jahren Ballettdirektor und Chefchoreograf des Hamburg Balletts und damit dienstältester Ballettchef der Welt. 1963 engagierte ihn John Cranko an das Stuttgarter Ballett, wo er später zum Solisten avancierte und seine ersten Choreografien erarbeitete. In seinen Neuschöpfungen sucht Neumeier eigene Erzählstrukturen. Neumeier ist Träger vieler Preise, zuletzt wurde er mit dem Prix Benois de la Danse 2013 für sein Lebenswerk ausgezeichnet.

Finian „Fin“ Greenall (Jahrgang 1972), bekannt unter dem Spitz- und Künstlernamen Fink, musizierte seit seinen Teenagertagen in Wales und wandte sich zun chst der Ambient- und Trip-Hop-Szene zu, ehe er ins „ernste“ Fach der Singer-Songwriter wechselte. Der Gitarrist und Sänger veröffentlicht seit 2006 mit seinem Trio überwiegend „unplugged“.

Bertrand Piccard (Jahrgang 1958) stammt aus einer berühmten Familie von Weltrekordlern: Sein Großvater Auguste Piccard stieg 1932 mit einem Ballon in 16.201 Meter Höhe. Sein Vater Jacques Piccard tauchte 1960 in den Marianengraben in eine Tiefe von 10 916 Metern. Bertrand Piccard selbst umkreiste als erster Mensch die Erde in einem Ballon. Der Schweizer ist außerdem Psychiater in Lausanne.

Andreas Hoppe (Jahrgang 1960) absolvierte in den 1980er Jahren seine Schauspielausbildung an der Hochschule für Musik und Theater Hannover. Neben seinem Fernsehengagement als Krimidarsteller spielt Hoppe auch in Kinofilmen.

Peter Altmaier (Jahrgang 1958) ist Bundesumweltminister. Sein Vater war Bergmann, seine Mutter Krankenschwester. In den neunziger Jahren setzte sich Altmaier für eine Modernisierung des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts ein und kritisierte Roland Koch für den seiner Ansicht nach ausländerfeindlichen Wahlkampf.

Person Die Texte der Autorinnen und Autoren sind aus dem Jahr 2013.
Vita

John Neumeier (Jahrgang 1942) ist seit 40 Jahren Ballettdirektor und Chefchoreograf des Hamburg Balletts und damit dienstältester Ballettchef der Welt. 1963 engagierte ihn John Cranko an das Stuttgarter Ballett, wo er später zum Solisten avancierte und seine ersten Choreografien erarbeitete. In seinen Neuschöpfungen sucht Neumeier eigene Erzählstrukturen. Neumeier ist Träger vieler Preise, zuletzt wurde er mit dem Prix Benois de la Danse 2013 für sein Lebenswerk ausgezeichnet.

Finian „Fin“ Greenall (Jahrgang 1972), bekannt unter dem Spitz- und Künstlernamen Fink, musizierte seit seinen Teenagertagen in Wales und wandte sich zun chst der Ambient- und Trip-Hop-Szene zu, ehe er ins „ernste“ Fach der Singer-Songwriter wechselte. Der Gitarrist und Sänger veröffentlicht seit 2006 mit seinem Trio überwiegend „unplugged“.

Bertrand Piccard (Jahrgang 1958) stammt aus einer berühmten Familie von Weltrekordlern: Sein Großvater Auguste Piccard stieg 1932 mit einem Ballon in 16.201 Meter Höhe. Sein Vater Jacques Piccard tauchte 1960 in den Marianengraben in eine Tiefe von 10 916 Metern. Bertrand Piccard selbst umkreiste als erster Mensch die Erde in einem Ballon. Der Schweizer ist außerdem Psychiater in Lausanne.

Andreas Hoppe (Jahrgang 1960) absolvierte in den 1980er Jahren seine Schauspielausbildung an der Hochschule für Musik und Theater Hannover. Neben seinem Fernsehengagement als Krimidarsteller spielt Hoppe auch in Kinofilmen.

Peter Altmaier (Jahrgang 1958) ist Bundesumweltminister. Sein Vater war Bergmann, seine Mutter Krankenschwester. In den neunziger Jahren setzte sich Altmaier für eine Modernisierung des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts ein und kritisierte Roland Koch für den seiner Ansicht nach ausländerfeindlichen Wahlkampf.

Person Die Texte der Autorinnen und Autoren sind aus dem Jahr 2013.
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