Invasoren der Ozeane

Die globalisierte Seefahrt trägt mit ihren Schiffen unbemerkt so manches Lebewesen um die Welt, das sich in seiner neuen Heimat rasend schnell vermehrt und die heimische Fauna bedroht

Irgendwann im Jahr 1992 überschritten ein paar Krabben unerkannt die Meeresgrenze zwischen Norwegen und Russland. Seitdem wandern sie täglich 100 Meter weiter nach Süden und zeugen dabei in einem fort Nachkommen. Sie haben es inzwischen bis zum Nordkap geschafft, bis Hammerfest und zur Insel Sørøya kurz vor Tromsø. Zu Hunderttausenden fressen sie den Meeresboden kahl, vertilgen Muscheln, Schneckenlaich und Fische am Angelhaken. Niemand weiß, wie weit sie vorstoßen werden, welchen Schaden sie noch anrichten werden.

Kamtschatkakrabben sind Monster am Meeresgrund. Sie tragen einen gepanzerten Körper, der bucklig ist und 15 Kilogramm schwer. Ihre sechs Laufbeine, jeweils mehr als einen halben Meter lang, sind randvoll mit Fleisch. Norwegische Fischer mögen die Tiere, sie sind ein lukratives Geschäft. Trotzdem haben sie in den Gewässern des Nordatlantiks nichts verloren. Kamtschatkakrabben stammen aus dem Osten Russlands, aus der Beringsee.

In den 1960er Jahren hatten die Sowjets die Tiere in den äußersten Westen ihres Reiches gebracht, um dort die Fischereiwirtschaft anzukurbeln und Rotarmisten zu verpflegen. Die Umsiedlung glückte – bloß nicht so, wie sich Forscher das vorstellten. Ihrer natürlichen Feinde beraubt, konnten sich die Kamtschatkakrabben hemmungslos vermehren. Und sie breiteten sich aus, erst westwärts, dann südwärts. Nun sind sie also hier, in den Fjorden Norwegens. „Wir können nicht abschätzen, wie sich die Fresslust der Krabben auf den Lebensraum auswirkt“, sagt Jan Sundet vom Meeresforschungsinstitut in Tromsø. „Biologische Invasion“ sagen Forscher dazu, wenn sich fremde Arten in neuen Revieren breitmachen. Der Mensch würfelt das Artgefüge in den Habitaten durcheinander wie nie zuvor, denn er ist mobil wie nie zuvor.

Der Containerverkehr über die Weltmeere hat in wenigen Jahrzehnten rasend schnell zugelegt. Immer größer und schneller sind die Riesen. 300-Meter-Pötte rauschen mit 25 Knoten dahin, flott wie ein Moped. Nur drei Wochen dauert die Reise von Hamburg nach Asien. Und mit den Schiffen überwinden ungebetene Gäste Distanzen, die die Natur nie vorsah.

Die Goldmuschel zum Beispiel, die aus Asien stammt, aus den großen Flussmündungen Chinas. 1991 entdecken argentinische Biologen im Río de la Plata vor Buenos Aires die hübsche, goldbraune Muschel zum ersten Mal. Niemand hat die Spezies dort je zuvor gesehen. Bis heute hat sie sich in allen großen Flüssen Südamerikas verbreitet. Sie heftet sich an Hafenmauern, wuchert Wasserkraftwerke, Trink- und Kühlwasserleitungen dicht. Alle paar Wochen schrauben Arbeiter die Turbinen auseinander und hobeln die Muschelmatten mit scharfen Wasserstrahlen ab.

Die Kosten sind immens. Man schätzt, dass Bioinvasion jährlich weltweit Schäden in Milliardenhöhe verursacht. Mancher Eindringling reist auf den Rümpfen mit, die Seepocken, die ihre Kalkpanzer auf den Stahl zementieren, weißliche Erhebungen, zwischen denen Muschellarven Halt finden, um ihre Klebefäden zu spinnen. Bis zur nächsten Wartung im Trockendock trägt manches Schiff einen dezimeterdicken Panzer blinder Passagiere durch die See, in dem sich auch Krebse und Schnecken vor den strömenden Wassern verbergen. Etwa 40 000 Handelsschiffe kreuzen über die Meere, und Tausende von Organismen fahren per Anhalter mit.

Der Hamburger Meeresbiologe Stephan Gollasch hat sie gezählt. Fast 100 Krebs- und Muschelarten schabte er in Trockendocks von Bordwänden. „Heute wissen wir, dass es vor allem drei Wege sind, über die wir Meereslebewesen vom einen Ende der Welt zum anderen verfrachten: die Einfuhr durch Aquakulturbetreiber, der Transport auf dem Schiffsrumpf, aber vor allem der Transport im Ballastwasser.“

Ballastwasser. Früher schleppten Hafenarbeiter Sand und Steine in den Rumpf, damit das Schiff beim Löschen der Ladung nicht auftrieb und kenterte. Seit es Stahlrümpfe gibt, pumpt man Wasser ins Schiff, in Seitentanks, Doppelbodentanks oder Achterpieken. Ein Öltanker verschifft bis zu 300 000 Tonnen Erdöl nach Europa. Auf dem Rückweg vom Ölhafen in Rotterdam oder Wilhelmshaven halten ihn wie der Bleifuß das Stehaufmännchen 100 000 Tonnen Ballastwasser aufrecht. Wenn Kräne Container von Bord hieven, schalten die Offiziere auf der Brücke die Pumpen an. Wie riesige Staubsauger schlürfen die Maschinen kubikmeterweise Wasser aus dem Hafenbecken in den Schiffsbauch – darin Bakterien und Mikroben, Krebs- und Muschellarven, Quallen und Algen. Stockdunkel und kalt ist es im Versteck. Nach Tagen wird der Sauerstoff knapp. Fischlarven fressen Krebschen und Algen weg. Kaum eines der Wesen überlebt die Reise. Doch die Harten kommen durch bis zum nächsten Hafen, bis das Schiff wieder beladen, die Pumpen angeworfen und die Ballasttanks geleert werden. Manche sind stark genug, um in der neuen Wasserwelt durchzukommen, wenn die Temperatur stimmt und der Salzgehalt erträglich ist. Sie sind der Keim für neues Leben in der Fremde – das meist unerwünscht ist.


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mare No. 79

No. 79April / Mai 2010

Von Tim Schröder und Gregory Gilbert-Lodge

Den Oldenburger Wissenschaftsjournalisten Tim Schröder, Jahrgang 1970, hat das Ausmaß der globalen Artverschleppung erschreckt. Als geradezu beruhigend empfand er da das Massensterben der eingewanderten Amerikanischen Schwertmuschel an der eiskalten ostfriesischen Küste im Januar. Es zeigte, dass die Natur manchmal selbst aufräumt.

Gregory Gilbert-Lodge, geboren 1967, lebt in Zürich. Zuletzt illustrierte er in mare No. 69 Apnoetaucher bei ihrer Jagd nach Rekorden in der Tiefsee.

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Vita Den Oldenburger Wissenschaftsjournalisten Tim Schröder, Jahrgang 1970, hat das Ausmaß der globalen Artverschleppung erschreckt. Als geradezu beruhigend empfand er da das Massensterben der eingewanderten Amerikanischen Schwertmuschel an der eiskalten ostfriesischen Küste im Januar. Es zeigte, dass die Natur manchmal selbst aufräumt.

Gregory Gilbert-Lodge, geboren 1967, lebt in Zürich. Zuletzt illustrierte er in mare No. 69 Apnoetaucher bei ihrer Jagd nach Rekorden in der Tiefsee.
Person Von Tim Schröder und Gregory Gilbert-Lodge
Vita Den Oldenburger Wissenschaftsjournalisten Tim Schröder, Jahrgang 1970, hat das Ausmaß der globalen Artverschleppung erschreckt. Als geradezu beruhigend empfand er da das Massensterben der eingewanderten Amerikanischen Schwertmuschel an der eiskalten ostfriesischen Küste im Januar. Es zeigte, dass die Natur manchmal selbst aufräumt.

Gregory Gilbert-Lodge, geboren 1967, lebt in Zürich. Zuletzt illustrierte er in mare No. 69 Apnoetaucher bei ihrer Jagd nach Rekorden in der Tiefsee.
Person Von Tim Schröder und Gregory Gilbert-Lodge