In trügerischem Licht

Die Lagune von Venedig: ein Ort voller Historie und Legenden, ein Touristenziel erster Güte von stiller Schönheit – und zugleich Opfer von schamloser Ausbeutung und politischer Ranküne

Ohne Wasser könne er nicht leben, sagte der Venezianer, als ich ihn kennenlernte, und ich dachte: ein Nixenmann. Er stirbt, wenn man ihn aus dem Wasser zieht. Er beschrieb das Wasser, als ob es lebendig wäre, ein Wasser, das je nach Stimmung die Farbe wechsele, bisweilen sei es grün, oft grünblau und gelegentlich auch graugrün, nachts mache es Geräusche, als ob es schnarche, und ich hörte ihm zu und roch den Pfeffer und den Weihrauch seines Parfüms und versuchte mir vorzustellen, aus dem Fenster zu blicken und immer nur Wasser zu sehen. Lebendiges Wasser, graugrünes Wasser, schnarchendes Wasser, kurz: ein Wunder. 

Und jetzt lebe ich seit einem halben Leben neben dem Nixenmann in diesem Wunder. In dem Beweis dafür, Unmögliches möglich zu machen, zu erhalten, noch. Das denke ich jedes Mal, wenn ich in Venedig lande und auf dieses grünblaue Wasser blicke. Auf die von Mäandern, Windungen und Schleifen durchzogene Lagune, mit Inseln, die von oben betrachtet aussehen, als habe ein Riese sie fallen gelassen, in ein Wasser, das weder Meer ist noch Land. Ein Wasser, in dem Venedig wie ein Fisch treibt, den man angebunden hat. Winzig und verletzlich. 

Der Umfang dieses Wunders lässt sich aus der Vogelperspektive am besten erfassen. Nicht aber seine Beschaffenheit. Die habe selbst ich, die seit Jahrzehnten in diesem Wunder lebt, nur erahnt, vom Vaporetto aus, wenn ich auf die Inseln gefahren bin, nach Burano, Murano, Torcello, zum Schwimmen auf den Lido, zu Besuch bei Freunden auf die Gemüseinsel Sant’Erasmo. Mein Blick für die Lagune schärfte sich erst, seitdem ich selbst ein kleines Fischerboot steuere, eine topetta, die der Nixenmann auf den Namen eines Lagunenfischs taufte: „Paganeo“. Erst von diesem Augenblick an habe ich begriffen, was es heißt, wenn die Venezianer sagen: Venezia è Laguna, Venedig ist Lagune. Und wie um mir zu zeigen, wozu sie fähig ist, bin ich in der Lagune gleich bei einem meiner ersten Bootsausflüge auf Grund gelaufen. Wer die Fahrrinnen verlässt, die von den bricole gekennzeichnet werden, den in den Boden getriebenen Holzpfählen, ist in der Lagune verloren – genau wie die Flotte der Franken, die, angeführt von Pippin, dem Sohn von Karl dem Großen, im Jahr 810 an der gleichen Stelle auf Grund lief. Und aus Gründen der Ehrlichkeit darf auch nicht verschwiegen werden, dass es genau der venezianische Nixenmann war, der mich aufgefordert hatte, die Fahrrinne zu verlassen, als er sagte: Fahr da mal in der Mitte durch!

Was die Lagune sein könnte, wenn man sie ließe, bewies sie uns in den Zeiten der Pandemie, als märchenhafte Stille herrschte, man bis auf den Grund der Kanäle blicken konnte und die Lagune mattglänzend dalag wie ein Silbertablett. Es war so still in unserem Kanal, dass ich wieder hörte, wie das Wasser lebt. Wie es keuchte, kaute, schmatzte. Wie es röchelnd an den Fundamenten der Häuser nagte und das Licht zu kleinen, gleißenden Punkten bündelte, die auf dem Kanal tanzten, wie es wieder Wasser wurde, das verwandelt.

Über Jahrhunderte betrachtete die Republik Venedig die Lagune als ihren Verteidigungswall. Welch fundamentale Bedeutung die Pflege der Lagune deshalb für die Republik hatte, lässt sich auch heute noch an den Pfeilern aus istrischem Marmor ablesen, die man am Rand der Lagune findet: Grenzsteine, cippi di conterminazione, die von der Republik Venedig 1791 hier aufgestellt wurden. Dekrete sahen hohe Strafen für jene vor, die in der Lagune bauten oder dem Wasser Raum entzogen, weshalb die Grenzsteine die Inschrift arrecar detrimento all’acque tragen, die jeden davor warnt, dem Wasser Schaden zuzufügen. Und noch heute weiß jeder Venezianer, was palo fa palude heißt: Ein Pfahl schafft Sumpf, weil sich um ihn herum Sedimente absetzen. 

Jeder nicht erlaubte Eingriff in die Lagune wurde vom Wassermagistrat jahrhundertelang streng bestraft, denn eine Lagune verschwindet, wenn man nichts für ihren Erhalt tut: Flüsse transportieren Sedimente und führen mit der Zeit dazu, dass die Lagune verlandet, so wie es bei der einstigen Lagunenstadt Ravenna geschah, 100 Kilometer südlich von Venedig. Deshalb sorgten die Venezianer schon im 14. und 15.   Jahrhundert dafür, die Flüsse Brenta, Piave und Sile umzuleiten. 

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mare No. 169

mare No. 169April / Mai 2025

Von Petra Reski und Henrik Spohler

Eine Entdeckung war für Petra Reski und Henrik Spohler das Naturschutzgebiet Valle Averto am südlichen Rand der Lagune. Rundherum wird die Natur allerdings nicht geschützt, sondern gejagt: Hier erlegte Donald Trump jr. eine seltene, geschützte Rostgans. Was international für Empörung sorgte.

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Vita Eine Entdeckung war für Petra Reski und Henrik Spohler das Naturschutzgebiet Valle Averto am südlichen Rand der Lagune. Rundherum wird die Natur allerdings nicht geschützt, sondern gejagt: Hier erlegte Donald Trump jr. eine seltene, geschützte Rostgans. Was international für Empörung sorgte.
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