Wenn die Sardinenfischer von Belle-Île nach oben blicken, dann sehen sie ihn: diesen kleinen, bärtigen Mann, der sich so merkwürdig benimmt. Jeden Tag steht er auf den Klippen der Steilküste, 50 Meter über ihren Holzbooten. Während sie ihre Netze einholen und wieder auswerfen, starrt er aufs Meer, bewegt hin und wieder einen Pinsel über die Leinwand vor sich.
Selbst an Tagen, an denen der Wind auffrischt, die Wellen derart wachsen, dass die Männer aus Sorge zu kentern in eine der Buchten ans Ufer rudern, bleibt er da. Dann bindet er die Staffelei mit einem Seil fest, damit sie nicht davonweht. Sein Vollbart und seine dunklen Haare flattern im Sturm, er hat Mühe, auf dem moosbewachsenen Schiefer festen Stand zu finden. Unter ihm peitscht der Atlantik gegen die Steilküste, überspült vorgelagerte Felsen, schäumt, spritzt. Einzig die Schreie der Möwen dringen durch das Dröhnen der Wellen. Und er hält den Blick auf das tosende Meer gerichtet, stundenlang.
Es ist der Herbst des Jahres 1886, und Claude Monet entdeckt eine neue Art des Malens.
Anfang September ist er nach Belle-Île gekommen, Monet, einer der Anführer der Impressionisten – jener Kunstrebellen des späten 19. Jahrhunderts, die mit der etablierten, auf Präzision und Realismus abzielenden Malerei gebrochen haben. Monets Gemälde „Impression, Sonnenaufgang“ hat der Bewegung 14 Jahre zuvor ihren Namen gegeben. Ein Kritiker bezeichnete ihn und seine Mitstreiter wegen des Bildtitels abschätzig als Impressionisten. Doch die Verspotteten machten sich den Begriff zu eigen – ging es ihnen doch nicht darum, die Wirklichkeit abzumalen, sondern ihren persönlichen Eindruck, die Impression, auf Leinwand zu bannen. Und auf Belle-Île, der größten bretonischen Insel, will Monet neue Eindrücke für seine Kunst sammeln.
Der Malerfürst steigt zunächst in Le Palais ab, doch die im Osten gelegene Kapitale des Eilands ist ihm zu belebt, „eine richtige Stadt“, wie er seiner Lebensgefährtin Alice Hoschedé schreibt, die, wie immer, wenn Monet auf Reisen ist, regelmäßig Nachricht von ihm erwartet.
Für urbane Szenerien indes ist Monet nicht nach Belle-Île gekommen. Und auch die bunten Blumenwiesen des Inselinneren interessieren ihn kaum, nicht die vom Seewind geformten Pinien oder die reetgedeckten Bauernhäuser. Ihn zieht es in den äußersten Westen des Eilands – an die Côte Sauvage, die wilde Küste, wo der offene Ozean auf schroffe Felsen trifft.
Als er dort an den Klippen steht und aufs Meer blickt, ist er überwältigt. Monet ist 45, ein erfahrener Landschaftsmaler. Aber so etwas hat er noch nicht gesehen. „Es ist düster wie die Hölle, aber wunderschön“, schreibt er an Hoschedé. Er glaube nicht, „so etwas jemals irgendwo sonst finden zu können“. Und so wolle er bleiben und sich „an ein paar Bildern versuchen“.
Er mietet sich nur wenige Gehminuten von der Küste entfernt im Dorf Kervilahouen bei einem Fischer ein. In seinem Zimmer laufen Mäuse und Ratten herum, und durch die Wand dringt ein Grunzen. Monet, der sich seine Hemden von Pariser Eliteschneidern fertigen lässt, schläft nun neben einem Schweinestall. Auch das Essen seiner Gastgeber bekümmert ihn, immer wieder gibt es Eier und Fisch, und dann ständig diese Hummer! Monet, der sonst gern Coq au Vin zum Mittag isst und Kuchen mit Pistaziencreme, wünscht sich Abwechslung, sieht aber ein, dass er das an diesem abgelegenen Ort nicht erwarten kann.
Er macht sich unverzüglich an die Arbeit, geht jeden Tag an die Steilküste. Nach einer Woche hat er bereits vier Bilder begonnen – und merkt bald, dass der Atlantik ihm anderes abverlangen wird als all seine bisherigen Motive.
Nicht, dass Wasser für ihn ein neues Sujet wäre. Monet hat Hafeneinfahrten gemalt, die Seine und ihre Nebenarme vom Boot aus dargestellt, den Ärmelkanal auf Leinwand gebannt. Die unablässige Bewegung des Wassers, die Spiegelungen und Lichteffekte haben ihn schon immer fasziniert.
Aber noch nie hat er das Element so wild, so kraftvoll erlebt wie an der Côte Sauvage. „Es ist herrlich, aber ganz anders als am Kanal“, notiert er. „Es wird etwas dauern, um herauszufinden, wie ich all das einfangen kann.“
Für den Impressionisten, dessen Anspruch es ist, den flüchtigen Moment festzuhalten, wie er ihn zu einem bestimmten Zeitpunkt wahrgenommen hat, stellt der aufgewühlte, sich ständig verändernde Ozean die denkbar größte Herausforderung dar.
Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 159. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.
Als Johannes Teschner, Jahrgang 1981, auf Belle-Île den Spuren Claude Monets folgte, wuchs sein Respekt vor dem Maler noch mehr: An den Klippen der Steilküste pfiff ihm der Wind so heftig um die Ohren, dass er Mühe hatte, seinen Notizblock (deutlich handlicher als Leinwand und Palette) unter Kontrolle zu halten.
Lieferstatus | Lieferbar |
---|---|
Vita | Als Johannes Teschner, Jahrgang 1981, auf Belle-Île den Spuren Claude Monets folgte, wuchs sein Respekt vor dem Maler noch mehr: An den Klippen der Steilküste pfiff ihm der Wind so heftig um die Ohren, dass er Mühe hatte, seinen Notizblock (deutlich handlicher als Leinwand und Palette) unter Kontrolle zu halten. |
Person | Von Johannes Teschner |
Lieferstatus | Lieferbar |
Vita | Als Johannes Teschner, Jahrgang 1981, auf Belle-Île den Spuren Claude Monets folgte, wuchs sein Respekt vor dem Maler noch mehr: An den Klippen der Steilküste pfiff ihm der Wind so heftig um die Ohren, dass er Mühe hatte, seinen Notizblock (deutlich handlicher als Leinwand und Palette) unter Kontrolle zu halten. |
Person | Von Johannes Teschner |