„Ihr seid ein Viertel Frankreichs“

Im Juni 1940 schließen sich 124 Fischer einer bretonischen Insel dem Widerstand um den Exilgeneral Charles de Gaulle an

In den Tagen zwischen dem 19. und 26. Juni 1940 segeln 124 Männer von der Île de Sein nach England. Von den insgesamt 500 Franzosen, die dem Appell von General Charles de Gaulle gefolgt sind und nun vor ihm in London stehen, sind allein 124 von der Île de Sein. Der General begrüßt jeden persönlich, stellt jedem der 500 Männer die Frage, woher er komme. „Île de Sein“ ist die häufigste Antwort. „Dann seid ihr seid ja ein Viertel Frankreichs!“, ruft de Gaulle überrascht aus und legt damit das Fundament für den Satz, den in Frankreich heute jedes Schulkind kennt: Die Île de Sein ist ein Viertel Frankreichs. Im Herbst 1943 werden vier weitere Männer auf der „L’Yvonne Georges“ folgen, andere Männer der Île segeln von Brest aus direkt nach England. Insgesamt folgen 141 Männer der Île de Sein dem Appell de Gaulles. Wie kam es zu einer derart großen Zahl an Freiwilligen von dieser kleinen Insel?  

Juni 1940: Nicht alle Franzosen resignieren nach der Niederlage Frankreichs. Vereinzelt kommt es zu Widerstands­aktionen. Die berühmteste Aufforderung zum Widerstand ist der „Appel du 18 Juin“, den General de Gaulle aus seinem Londoner Exil sendet. Sein Aufruf wird in den folgenden Tagen noch mehrmals im Radio gesendet. 

In diesen Juniwochen ist die Sicht auf der Île de Sein ausgezeichnet. Auf dem Kontinent sehen die Sénans, wie sich die Inselbewohner nennen, dicke, schwarze Rauchwolken in den Himmel steigen. Die Wehrmacht nimmt Brest ein. Ausgebrannte Ölfässer treiben bis zur Île. Schweröl von torpedierten Schiffen legt sich auf die Steine am Strand, es klebt überall dort, wohin das Wasser kommt. Das ist das erste Mal, dass die Leute von Sein das „schwarze Meer“ erleben. Zugleich verdichtet sich das Gerücht, die Wehrmacht werde bald kommen. 

Am Abend des 21. Juni meldet der Wärter des Leuchtturms Henri Thomas ins Dorf, dass ein französischer General im Radio gesprochen habe; die Rede werde am nächsten Morgen wiederholt. Am folgenden Samstagmorgen versammeln sich Hunderte Menschen auf dem Quay. Madame Menou-Gonidec stellt ihr Radio ins geöffnete Fenster im Hochparterre ihres „Hôtel de l’Océan“. Um elf Uhr meldet sich London: „Ich, General de Gaulle, zurzeit in London, lade alle französischen Soldaten des Heers, der Marine und der Luftwaffe ein. Ich lade alle Inge­nieure sowie Arbeiter aus der Rüstungsindustrie ein, die sich auf britischem Boden befinden oder die planen, sich dort einzufinden, sich mit ihren Waffen oder auch ohne Waffen bei mir zu melden. Ich lade alle Franzosen, die frei bleiben wollen, ein, mir zuzuhören und mir zu folgen. Es lebe das freie Frankreich! Was auch immer passieren wird – die Flamme der französischen Résistance wird nie verlöschen.“

Am Sonntag übermittelt der Untergrund aus Brest, die Wehrmacht werde in den kommenden Tagen auch die Île besetzen. Am Montag wird de Gaulles Appell erneut gesendet. Bürgermeis­ter Louis Guilcher erhält einen Anruf von der Präfektur: Junge Männer und auch Ältere mögen sich so schnell wie möglich bereit machen, um dem Appell zu folgen und nach England überzusetzen. Die kleine Garnison aus 24 französischen Soldaten, die seit Kriegsbeginn auf der Île stationiert ist, werde ebenfalls mit dem ersten Schiff nach England fahren. Die Abfahrt wird für den kommenden Tag, 22 Uhr, an der Neuen Pier festgesetzt. 

Die Neuigkeit geht wie ein Lauffeuer über die Insel. Besonders die jungen Männer warten mit einer noch nie da gewesenen Ungeduld. Am Abend des 25. Juni gehen 35 Männer auf der „Rouanez-ar-Mor“ an Bord. Dutzende bleiben auf der Pier zurück – das Schiff kann nicht mehr Männer fassen. Knapp 20 Männer finden auf der „La Velléda“, weitere auf der „Pax Vobis“ Platz. Die restlichen Männer gehen bei der „Rouanez-ar-Péoc’h“ und der „Maris Stella“ an Bord. Ab 21 Uhr versammelt sich die gesamte Bevölkerung der Île auf der Pier vor dem Hafenbüro. Punkt 22 Uhr, mit Einbruch der Dunkelheit, legen die Boote ab. Doch dann zwingt ein Motorschaden die Männer der „Pax Vobis“, an der Pier am Leuchtturm festzumachen. Kapitän Pierre Couillan­dre und seine „Corbeau des Mers“ nimmt die Männer auf, setzt Kurs Nord, nach England, den anderen Booten hinterher. 


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mare No. 165

mare No. 165August / September 2024

Von Christian Schumacher

Christian Schumacher, 1964, lebt in Berlin. Seit früher Kindheit ist er mit dem Meer verbunden. Sieben Jahre lang baute er sein eigenes Segelschiff, das gerade noch rechtzeitig zu Hochzeit und Geburt seines Kinds fertig wurde. Schumacher schreibt Drehbücher und führt Regie. Sein Schwerpunkt sind Themen mit ethischen und ökologischen Inhalten. Eines seiner zukünftigen Projekte ist die fiktionale Serie „Nach uns die Sintflut“, inspiriert von den wahren Begebenheiten auf der Île de Sein.

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Vita Christian Schumacher, 1964, lebt in Berlin. Seit früher Kindheit ist er mit dem Meer verbunden. Sieben Jahre lang baute er sein eigenes Segelschiff, das gerade noch rechtzeitig zu Hochzeit und Geburt seines Kinds fertig wurde. Schumacher schreibt Drehbücher und führt Regie. Sein Schwerpunkt sind Themen mit ethischen und ökologischen Inhalten. Eines seiner zukünftigen Projekte ist die fiktionale Serie „Nach uns die Sintflut“, inspiriert von den wahren Begebenheiten auf der Île de Sein.
Person Von Christian Schumacher
Vita Christian Schumacher, 1964, lebt in Berlin. Seit früher Kindheit ist er mit dem Meer verbunden. Sieben Jahre lang baute er sein eigenes Segelschiff, das gerade noch rechtzeitig zu Hochzeit und Geburt seines Kinds fertig wurde. Schumacher schreibt Drehbücher und führt Regie. Sein Schwerpunkt sind Themen mit ethischen und ökologischen Inhalten. Eines seiner zukünftigen Projekte ist die fiktionale Serie „Nach uns die Sintflut“, inspiriert von den wahren Begebenheiten auf der Île de Sein.
Person Von Christian Schumacher