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Sie stranden und verschwinden: Wale in Gemälden alter Meister

Im Jahr 1873 hinterließ ein begüterter Pfarrer dem Fitzwilliam Museum in Cambridge seine Kunstsammlung, darunter neben Zeichnungen von Rubens und Dürer ein 1641 von Hendrick van Anthonissen geschaffenes Gemälde namens „Strandansicht bei Scheveningen“. Das Werk des wenig bekannten Marinemalers zeigte eine charmante, aber unspektakuläre Szene: ein holländischer Strand mit Booten auf dem Trockenen, herumstehende Menschen, im Hintergrund der Kirchturm von Scheveningen, dazu viel Wellen und Wolken. „Schön sind hier die Lichtwirkung und die Weise, in der die Weite des Wassers dargestellt ist, das Ganze in grauen und braunen Tönen, belebt durch einige Tuschen Rot“, befand der Kunsthistoriker Laurens Bol. „Dieses Gemälde mit seinem hohen Himmel – perlgrau und blau – und dem stahlgrauen Wasser ist eine treffende Impression eines kühlen und windigen Tags am Meer.“

Bei aller Unauffälligkeit blieb das Bild immer etwas rätselhaft, denn was machten all die angeregt plaudernden Menschen am Ufer? Im Goldenen Zeitalter ging niemand zum Vergnügen am Strand spazieren. Warum zeigte ein Mann mit ausgestrecktem Arm in Richtung Meer? Und weshalb hatte sich auf der Düne am linken Bildrand ein Häuflein Menschen versammelt, die ebenfalls allesamt auf die See schauten?

Als 2013 die Galerie holländischer Meister renoviert werden musste, ließ das Fitzwilliam Museum auch einige Gemälde restaurieren, und so erhielt die Restauratorin Shan Kuang den Auftrag, die „Strandansicht bei Scheveningen“ von ihrer vergilbten Firnisschicht zu befreien. „Während ich die Oberfläche bearbeitete, tauchte plötzlich eine männliche Figur auf – und neben ihr eine Form, die wie ein Segel aussah“, erzählt Kuang. Der Mann schien wie ein Kitesurfer über den Wellen zu schweben. Was machte er da?

„Nun fiel mir auch auf, dass an dieser Stelle ein Stück See weniger sorgfältig gemalt war als der Rest des Meeres.“ Es lag nahe, dass es sich um eine spätere Übermalung handelte. Nach längerem Überlegen beschlossen die Restauratoren, sie zu entfernen – und siehe da: In der Brandung tauchte ein gestrandeter Wal auf, auf dessen Rücken die Männerfigur stand. Mit dieser Entdeckung erhielt das bescheidene Gemälde plötzlich eine ganz neue Bedeutung. Die ereignislose Strandszene in Scheveningen entpuppte sich als frühes bildjournalistisches Dokument, und die Spaziergänger erwiesen sich als Schaulustige.

Gestrandete Wale waren in den Niederlanden des Goldenen Zeitalters keine Seltenheit, sorgten aber immer für Aufregung. Schon 1520 hatte Albrecht Dürer eine Reise von Antwerpen nach Zierikzee unternommen, weil dort ein Wal gestrandet war. Als er ankam, hatte die Flut ihn jedoch schon wieder fortgespült. Abgesehen vom Sensationsfaktor galten gestrandete Wale als schlechtes Omen oder gar als Vorboten der Apokalypse. „Gott möge das Böse von unserem geliebten Vaterland abwenden!“, schrieb der Gelehrte Hugo de Groot angesichts eines Wals, der 1598 bei Berkheide angespült wurde. Im Lauf der Zeit wurden Wale zum beliebten Sujet. Ähnlich Raupen und Käfern auf Blumenstücken oder umgekippten Weingläsern auf Stillleben dienten sie als Memento mori, als Vergänglichkeitsmahnung. Erst als gegen Ende des 17. Jahrhunderts die Walfangindustrie aufkam, änderte sich ihr Image: Wale galten nicht mehr als Monster, sondern als fette Beute.


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mare No. 126

No. 126Februar / März 2018

Von Anneke Bokern

Anneke Bokern, Jahrgang 1971, lebt in Amsterdam. Bei der Recherche stellte sie fest, dass es in den Niederlanden ein 28-seitiges staatliches Protokoll für den Umgang mit gestrandeten Meeressäugern gibt. Sie ist trotzdem noch nie einem Wal am Strand begegnet.

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Vita Anneke Bokern, Jahrgang 1971, lebt in Amsterdam. Bei der Recherche stellte sie fest, dass es in den Niederlanden ein 28-seitiges staatliches Protokoll für den Umgang mit gestrandeten Meeressäugern gibt. Sie ist trotzdem noch nie einem Wal am Strand begegnet.
Person Von Anneke Bokern
Vita Anneke Bokern, Jahrgang 1971, lebt in Amsterdam. Bei der Recherche stellte sie fest, dass es in den Niederlanden ein 28-seitiges staatliches Protokoll für den Umgang mit gestrandeten Meeressäugern gibt. Sie ist trotzdem noch nie einem Wal am Strand begegnet.
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