Es war einmal in Sibirien

Eine sibirische Fotografin kehrt an den Ort ihrer Kindheit zurück

Vor langer Zeit erwachte ein kleines Mädchen in Sibirien, an der Küste des Nordpolarmeers, in einem warmen Bett in einer kleinen Stadt aus ihrem Traum. Es war Morgen, aber es war noch dunkel, denn die kleine Stadt lag so weit im Norden, dass die Sonne sich für viele Monate nicht zeigte. Die Leute nannten es Polarnacht.

Das kleine Mädchen rieb sich den Schlaf aus den Augen und kleidete sich im Dunkeln an. Es zog seine pinkfarbene Jacke und rote Wollmütze an und ging nach draußen. Sein Atem gefror, und es machte sich auf den Weg zur Schule. Um es herum breiteten sich endlose Felder gefrorener Tundra aus. Aber die Felder waren nicht weiß, wie man vielleicht denken könnte, denn am Himmel erstrahlte das Nordlicht. Es sah aus wie eine große gefrorene Atemwolke, und das kleine Mädchen war umgeben von bezaubernden Farben. Der Schnee war grün angemalt. Manchmal, wenn es Glück hatte, sah es sogar blaue, gelbe oder pinkfarbene Farbkleckse auf seinem Weg zur Schule.

Es liebte diese Farben sehr. Sie anzuschauen weckte seine Fantasie. Es stellte sich die Felder immer als blanke Leinwände vor, auf denen Mutter Natur malte. Und was war mit ihm selbst? War es auch Teil des Gemäldes, mit seiner pinkfarbenen Jacke und der roten Mütze?

Es lächelte und begann in Gedanken von den Tagen zu träumen, wenn die Polarnacht zu Ende wäre und die erste Sonne auf die verschneiten Berge fiel, sodass sie wie Blaubeereiscreme leuchteten. Und dann würde der Sommer beginnen – der Schnee würde schmelzen, und die Tundra würde sich in den Planeten Mars verwandeln, dessen goldene Farben sich endlos in alle Richtungen ausbreiteten.

Es verwahrte alle diese Farben in seinem Herzen und lief unter dem Nordlicht in dieser kleinen Stadt hoch im Norden.

 

 

Tiksi ist eine reale Stadt an der sibirischen Nordpolarmeerküste, und auch das Mädchen ist real. Ich wurde 1985 in Tiksi geboren und lebte dort bis zu meinem achten Lebensjahr. Ich hatte das Glück, meine Kindheit während der goldenen Jahre der Stadt zu verbringen. Noch heute höre ich die Leute von der damaligen Zeit reden, vom romantischen sowjetischen Traum der Eroberung der Arktis und dem Glauben an eine leuchtende Zukunft.

Nach Tiksi zu gehen war beinahe wie ein Weltraumflug, wie eine Reise zum Mond. Die sowjetische Regierung verteilte im ganzen Land Arbeitsplätze an junge Fachkräfte. In Tiksi zu arbeiten galt als sehr renommiert, und die Leute standen Schlange um die Plätze. Ein Großteil der Bevölkerung von Tiksi waren Wissenschaftler, Angehörige der Marine und der Armee und Kapitäne von Eisbrechern aus verschiedenen Gebieten der Sowjetunion. Einige kamen aus Moskau oder Sankt Petersburg. „Onkel Wanja“ zum Beispiel (der Mann mit der roten Mütze, der auf vielen meiner Fotografien zu sehen ist) kam aus Riga. Er war Mechaniker auf einem Frachtschiff, und er verliebte sich in die Arktis und in Tiksi und beschloss zu bleiben. Noch heute lebt er als alter arktischer Wolf dort.

Meine Kindheit war unbeschwert. Meine Erinnerungen mögen von Naivität gefärbt sein, aber ich hatte das Gefühl, dass die Menschen in Tiksi freundschaftlich miteinander umgingen, eine besondere Gemeinschaft gleichgesinnter und gut ausgebildeter Abenteurer. In den langen Polarnächten besuchte man sich untereinander, und unsere Mütter buken leckeren Kuchen und machten Eiscreme. Zu Silvester studierten wir Theaterstücke für unsere Eltern ein, die dann im lokalen Fernsehen gesendet wurden. Wenn ich heute daran zurückdenke, kommt mir Tiksi wie eine vollkommene kleine Welt vor, isoliert von allem anderen, und gerade das machte seine Schönheit aus.

Meine Eltern waren jung und verliebt und glücklich, dieses seltsame Land ge- meinsam zu entdecken. Mein Vater war Biologielehrer, und meine Mutter unterrichtete Literatur und Russisch. Mein Vater (er ist ein großer Träumer) erzählte mir ständig Geschichten vom Rest der Welt (wo er tatsächlich nie gewesen war), von Afrika und Australien, der Landschaft und den Tieren, die dort lebten, den Blumen und interessanten Ökosystemen, und das alles kam mir wie ein Märchen vor.

Aus dem Englischen von Georg Deggerich


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mare No. 101

No. 101Dezember 2013 / Januar 2014

Von Evgenia Arbugaeva

Evgenia Arbugaeva, geboren 1985 in Tiksi, Sibirien, lebt und arbeitet heute als freie Fotografin in Russland und New York. Sie studierte Kunstmanagement in Moskau und Fotografie in New York. Ihre Arbeiten wurden unter anderem in National Geographic, Le Monde 2 und Marie Claire veröffentlicht.

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Vita Evgenia Arbugaeva, geboren 1985 in Tiksi, Sibirien, lebt und arbeitet heute als freie Fotografin in Russland und New York. Sie studierte Kunstmanagement in Moskau und Fotografie in New York. Ihre Arbeiten wurden unter anderem in National Geographic, Le Monde 2 und Marie Claire veröffentlicht.
Person Von Evgenia Arbugaeva
Vita Evgenia Arbugaeva, geboren 1985 in Tiksi, Sibirien, lebt und arbeitet heute als freie Fotografin in Russland und New York. Sie studierte Kunstmanagement in Moskau und Fotografie in New York. Ihre Arbeiten wurden unter anderem in National Geographic, Le Monde 2 und Marie Claire veröffentlicht.
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