Eine fabelhafte Küche

Alle Monate wieder präsentiert der Schweizer Samuel Herzog auf Kochhappenings Gerichte von einer Atlantikinsel namens Santa Lemusa

Es war im Jahr 1902, als ein Mann namens Laurent Edel eine Gewürzmischung kreierte. Er röstete Koriandersamen und Sichuanpfefferkörner, bis sie dufteten. Dann zerrieb er getrocknete Granatapfelkerne, streute zermahlene Gewürznelken in eine Pfanne, gab weißen Pfeffer hinzu, Korianderblüten und geraspelten Fenchel. Seine Schöpfung nannte er Odom, nach der höchsten Gottheit der alten Variser. Diese hatten die Atlantikinsel Santa Lemusa, auf der Laurent Edel lebte, einst von Europa aus besiedelt. Edels Gewürzmischung verkaufte sich erfolgreich auf dem Eiland und an europäische Schiffe, die an der Insel vorbeikamen.

Eine schöne Geschichte, aber erfunden. Samuel Herzog ist eigentlich Redakteur einer Schweizer Tageszeitung; aus lauter Lust am Fabulieren hat er sich vor rund zehn Jahren eine Insel namens Santa Lemusa ausgedacht. Sie liegt im Atlantik; es gibt dort Dörfer und Städte, in denen Künstler, Seefahrer, Bauern und Architekten leben. Er ersann auch eine Gründungslegende und sogar eine Nationalhymne. All seine Geschichten kann man auf der Website hoio.ch nach­lesen. Dort finden sich auch Fotos und Videos, die er auf der Insel gemacht haben will. Mit „Hoio“, sagt er, begrüßten sich übrigens die Bewohner von Santa Lemusa.

Weil Samuel Herzog seit je gerne kocht und die Menschen auf seiner Insel natürlich auch essen müssen, erfand er eine lemusische Küche, deren Ursprünge ins Mittelalter zurückreichen. Alle paar Monate präsentiert er seine neuesten Kreationen auf Ausstellungen, in Galerien oder auf Schlössern. Man muss nur den Newsletter auf seiner Internetseite abonnieren und erfährt so von dem nächsten Kochhappening.

An einem Abend im letzten Winter hat Samuel Herzog ins Kochstudio „Cookuk“ in Aarau in der Schweiz eingeladen. Neugierig stehen seine Gäste um ihn herum, als er den Deckel eines Kochtopfs lüftet, in dem glasige Rindersehnen in einer Sherrysauce schmurgeln. „Diese tendons de buef wurden zuerst im lemusischen Mittelalter zubereitet“, erklärt er. Eigentlich müsse es natürlich bœuf heißen und nicht buef, aber es handele sich halt um eine alte Schreibweise. Er berichtet, dass das Rezept erstmals im Jahr 1331 in einem Kochbuch notiert worden sei, dass das Buch dann aber jahrhundertelang verschwunden war und erst in den 1960er-Jahren wieder auftauchte.

Seinen Gästen schwirrt bald der Kopf. Doch auf jede noch so verstiegene Frage hat unser Gastgeber eine präzise Antwort parat, und auf eine Geschichte folgt alsbald die nächste – und man denkt irgendwann: Die Insel Santa Lemusa mag zwar klein und vom Meer begrenzt sein, aber die Welt der Erzählungen ist unendlich.

Samuel Herzog berichtet derweil, wie schwierig es sei, mittelalterliche Rezepte neu zu interpretieren. So heiße es in dem Kochbuch von 1331, dass die Sehnen in Wein köcheln müssten. Aber wie schmeckte damals wohl der Wein?, fragt er seine Gäste. Nach allem, was man wisse, antwortet er sich selbst, sei der Wein zu jener Zeit süßer gewesen als heutiger. Er ähnelte unserem Sherry. Deshalb jetzt noch einen Spritzer Sherry an die Sehnen.

Für die tendons de buef verwendet Herzog Pilze. Er halte sich damit an das alte Rezept. Und dann rezitiert er aus einem mythischen Text von Santa Lemusa: „Sie füllen die Kessel mit Sehnen und Wein, packen Gewürze viel und Pilze hinein.“ Doch welche Pilzsorte einst ge- nommen wurde, wisse heute niemand mehr. Nach einigen Versuchen schwört er jetzt auf Shiitakepilze.

Stunden später lüftet Samuel Herzog den Kochdeckel. Er hat viel erzählt, seine Gäste sind hungrig und die Sehnen weich und schwabbelig. „Auf Französisch heißen Sehnen tendons“, erläutert er. Das Wort leite sich von tendre ab, also von „zart“. Rasch garniert er jeden Teller mit einem Wirsingblatt, darauf legt er ein Stück glibberiger Sehne. Beherzt kosten wir. Das Gericht ist erstaunlich köstlich, ein wenig klebrig, aber vor allem ungewöhnlich. Wohl eben so, als säße man zu Tisch bei Freunden aus Santa Lemusa. Man bittet bald um Nachschlag in der Gewissheit, dass dies ein einmaliger Abend ist. Denn Herzog bereitet nur sehr selten das gleiche Rezept ein zweites Mal zu. Schließlich wollen die nächsten Geschichten erzählt und die kulinarischen Inseltraditionen weiterentwickelt werden.

 

Tendons de buef

Zutaten (für vier Personen)

500 g Rindersehnen, 3 dl Sherry oder Sake, 4 EL Sojasauce, 3 TL Odom, 2 Anissterne, 20 g Ingwer, 1 rote Chili, 2 TL Zucker, 30 g Shiitakepilze.

Zubereitung

Die Rindersehnen eine Minute in kochendes Wasser geben, in einem Sieb abspülen und in einen Topf füllen. Sherry oder Sake, Sojasauce, 7 dl Wasser, Odom, Anis, Ingwer, Chili und Zucker hinzugeben, umrühren, aufkochen lassen, dann Hitze reduzieren und zwei Stunden abgedeckt köcheln lassen. Pilze unterheben, erneut zudecken und eine weitere Stunde köcheln lassen. Auf einem Wirsingblatt servieren.

Alle Auskünfte zu Samuel Herzogs <strong>Küche</strong> und den Koch­abenden auf <a href="http://www.hoio.ch/" target="_blank">www.hoio.ch</a>

mare No. 119

No. 119Dezember 2016 / Januar 2017

Von Dirk Liesemer und Lukas Lienhard

Dirk Liesemer, geboren 1977, studierte Politik und Philosophie in Münster und Rennes, Frankreich. Er besuchte die Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg und arbeitete als Redakteur in Berlin und München. Heute ist er als freiberuflicher Journalist für diverse Magazine tätig, auch für die Zeitschrift mare.

Lukas Lienhard, Fotograf, lebt und arbeitet in Zürich.

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Vita

Dirk Liesemer, geboren 1977, studierte Politik und Philosophie in Münster und Rennes, Frankreich. Er besuchte die Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg und arbeitete als Redakteur in Berlin und München. Heute ist er als freiberuflicher Journalist für diverse Magazine tätig, auch für die Zeitschrift mare.

Lukas Lienhard, Fotograf, lebt und arbeitet in Zürich.

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Dirk Liesemer, geboren 1977, studierte Politik und Philosophie in Münster und Rennes, Frankreich. Er besuchte die Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg und arbeitete als Redakteur in Berlin und München. Heute ist er als freiberuflicher Journalist für diverse Magazine tätig, auch für die Zeitschrift mare.

Lukas Lienhard, Fotograf, lebt und arbeitet in Zürich.

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