Ein Märchen von Mensch und Tier

Bei uns darf die Prinzessin den Frosch nur küssen. In anderen Ländern, bei anderen Völkern geht mehr

Zwei Brüder lebten zusammen mit ihrer Schwester in einer Hütte am Meer. Die Brüder fuhren untertags mit ihrem Boot aus, um zu fischen. Sie fingen nicht viel und blieben oft hungrig. Eines Tages aber sahen sie, dass ihnen ein Seehund einen ganzen Schwarm Fische zutrieb. Da fingen sie so viel, dass sie ihre Beute kaum heimbringen konnten. Auch am andern Tag fingen sie viel, weil wiederum der Seehund auftauchte und ihnen half. Und so ging es weiter durch eine Reihe von Tagen. Die Schwester wunderte sich, dass sie auf einmal so viel Fische mitbrachten. – „Ein Seehund hilft uns“, sagten sie. Eines Tages besuchte der Seehund das Mädchen und brachte ihr einen besonders schönen Fisch. Das tat er nun öfters; und die Schwester verliebte sich in den Seehund. Die Brüder aber merkten nichts. So ging es eine Zeitlang. Dann wurde die Schwester schwanger. Nach einigen Wochen sahen die Brüder, dass ihre Schwester schwanger war, und sie fragten das Mädchen: „Von wem bist du denn schwanger? Es ist doch außer uns kein Mann hier.“ Aber die Schwester sagte nichts. Da beobachteten die Brüder, wenn sie zurückkamen, dass eine nasse Spur vom Meer zur Hütte führte. Und sie legten sich auf die Lauer, um zu sehen, wer ihr Schwager sei. Sie taten so, als ob sie wie gewöhnlich ausführen, lenkten jedoch ihr Boot in die nächste Bucht, versteckten es hinter einer Klippe und kehrten zu Lande in die Umgebung ihrer Hütte zurück. Und nachdem sie einige Zeit gewartet hatten, sahen sie aus ihrer Hütte einen Seehund kommen und zum Meer kriechen. Nun wussten sie, wer ihre Schwester geschwängert hatte. Sie sagten nichts zu ihr, aber sie beschlossen, ihren Schwager zu töten. Am folgenden Tag versteckten sie ihr Boot noch näher bei ihrer Hütte und dem Meer. Und als dann der Seehund aus der Hütte kam und zum Meer kriechen wollte, töteten sie ihn mit ihren Speeren. Die Schwester wartete von da an vergeblich auf ihren Freund und wurde sehr traurig, denn sie konnte sich denken, dass er umgebracht worden war. Sie ging jeden Tag ans Meer und rief nach ihm; aber er kam nicht. Und als ihre Zeit gekommen war, da gebar sie ihr Kind. Aber sie starb unter der Geburt an der Küste des Meeres. Das Kind jedoch kroch ins Wasser und schwamm davon. Und als die Brüder zurückkamen – ohne Fische, denn seit sie ihren Schwager getötet hatten, trieb ihnen niemand mehr etwas zu –, da fanden sie ihre tote Schwester und eine blutige Spur, die zum Wasser führte.

mare No. 31

No. 31April / Mai 2002

Eine Liebesgeschichte aus Patagonien

Märchen der Yamana-Indianer, aufgezeichnet von dem Arzt und Naturforscher Paul Hyades, der von 1882 bis 1883 bei dem Volk in Patagonien lebte.

Mehr Informationen
Vita Märchen der Yamana-Indianer, aufgezeichnet von dem Arzt und Naturforscher Paul Hyades, der von 1882 bis 1883 bei dem Volk in Patagonien lebte.
Person Eine Liebesgeschichte aus Patagonien
Vita Märchen der Yamana-Indianer, aufgezeichnet von dem Arzt und Naturforscher Paul Hyades, der von 1882 bis 1883 bei dem Volk in Patagonien lebte.
Person Eine Liebesgeschichte aus Patagonien