Ein Klumpen Glück

Das Wattenmeer verströmt einen einzigartigen Reiz, für die meis­ten ist es keine Liebe auf den ersten Blick. Die Ödnis, das zeitweise Verschwinden unter den Wassermassen erzeugen ein flüchtiges Bild. Dabei gehört das Watt zu den produktivsten Ökosystemen

Als Kind sammelte ich stundenlang Muscheln. Ich kann mich, als wäre es gestern, der Verheißung erinnern, die von den Wattflächen ausging. Der Sandboden erstreckte sich vor mir in glitzernder Leere, in schweigender Ausdehnung bis zum Horizont. Es gab nichts als diese Fläche und den Himmel. Ein Szenario, still und weit, scheinbar fast ohne Leben, das mir das Herz bis zum Hals schlagen ließ.

Schon im Auto vor der Ankunft war ich aufgeregt: Gleich würde sich der Boden des Meeres vor mir erstrecken wie ein Geschenk unbekannten Ausmaßes. Bis heute habe ich immer wieder versucht zu verstehen, warum diese rauschhafte Freude in mir aufwallte, wenn meine nackten Zehen die graue Götterspeise des Schlickes berührten, wenn mein Körpergewicht Wasserpfützen zwischen den gekringelten Sandhäufchen des Wattwurms in den Boden drückte. Aber es bleibt nichts als die Erinnerung an das Gefühl einer Verheißung. Alle Begeisterung, die ich seitdem an Meeresküsten erlebte, war ein Abglanz dieser ersten Freude: das Glück über die Milde des Mittelmeers unter blühenden Ginsterbüschen in einer einsamen Bucht auf Elba, das in Silberblau und Zartrosa eingefasste Fernweh in der Bucht des Mont-Saint-Michel – Echos jener ersten Ankunft an der See im bescheidenen Nordfriesland.

Ich war als Kind mit dem Meer beschenkt wie mit dem Lächeln der Mutter. Sobald ich konnte, klappte ich den Sitz nach vorne, zwängte mich aus der Tür, streifte eilig Schuhe und Strümpfe ab, lief durch pieksendes Strandgras und über sandige Matten. Da lag es, das vom Wasser freigegebene Land, eine Leihgabe der Unendlichkeit, nichts Reales, sondern Vorgeschmack einer größeren Sehnsucht, einer Lebenssehnsucht, die sich nie stillen lässt. Die Schalen unzähliger Muscheln bildeten Inseln im Silberspiegel, winzige Archipele und Landrücken. Die zartrosa Hüllen der Tellmuscheln erwarteten mich, Miesmuschelsplitter in allen Größen, ultramarin und schwarz gewölkt wie der Himmel vor einem Gewitter, Sandklaffmuscheln in fahlem Weiß, Herzmuscheln, deren Riffeln in Türkis, Bronze, Rosé und Veilchenblau schimmerten. Die Schalen der Weichtiere lagen wie vergessene Kartoffeln auf dem Acker. Meine Sohlen traten in knirschenden Schill, in die geborstenen Reste eines Leichenmeers. Es ließ mich staunen, mit welcher Nonchalance und mit welcher tödlichen Großzügigkeit das Meer mit Leben und Sterben um sich warf.

Instinktiv und ohne zu überlegen begann ich, meine Taschen mit den feuchten Schalen zu füllen. Meine Finger wurden schnell klamm vom kalten Wasser. Feuchtigkeit und Sand benetzten meine Taschen. Plattmuschel klimperte neben Trogmuschel, Venusmuschel auf Teppichmuschel – die Gehäuse, hastig aufgeklaubt, verwandelten sich noch während meines Marsches parallel zur Wasserlinie in Trümmer. Aber ich suchte ja nicht die schönsten Stücke, ich hatte keine ästhetischen Ziele. Ich wollte nichts dekorieren. Ich wollte mir dieses Gefühl einverleiben; diese Empfindung, zu Gast in einem immensen, nicht auszulotenden Lebensreich zu sein, das mich sprachlos willkommen hieß und tröstete. Unendlich, glänzend und verheißungsvoll, so war die Wirklichkeit. Ihre Oberfläche versprach beständig mehr; ihre hinreißende Hülle verhieß einen verborgenen Reichtum, den ich ahnte, aber nicht erreichte.

Die Natur liebe es, sich zu verbergen, ist einer jener berühmten Sätze aus der frühen Zeit der Philosophie. Aber zugleich liegt in diesem Verbergen so viel Koketterie mit dem, was die Abwesenheit verspricht. Mit meinen Sinnen erspürte ich in der Leere der Sandflächen ein Potenzial der Schöpfung, ein Vibrieren des Lebens, erfasste im Diamantstaub der Muschelsplitter, in welchem Maß die Welt sich mit Vitalität zu füllen vermag, wenn man sie lässt. Denn das Watt ist eine Welt, deren Fruchtbarkeit kaum von einem anderen Ort übertroffen wird. Aber es braucht den Instinkt eines Kindes, um diese Möglichkeiten verborgenen Lebens unter der Oberfläche zu erspüren.

Forscher können viele Superlative aufzählen, um diesen Lebensraum zu beschreiben. Das Wattenmeer, heißt es, sei so produktiv wie der Regenwald. Jeder Hektar bringe alljährlich lebende organische Masse im Gewicht von 20 Tonnen hervor. Im Frühjahr und Herbst landen – trotz abnehmender Bestandszahlen – auf dem Vogelzug Schwärme von Hunderttausenden Individuen auf den prickelnden Schlickflächen. Sie sättigen sich am Fleisch der Krebse, Muscheln und Würmer, ohne dass ein solcher Fressüberfall nennenswerte Auswirkungen auf die Größe der im Boden schlummernden Vorräte hätte.

Das Watt ist Brutreaktor biologischer Transformationen. Gedüngt von den Nährstofffrachten der Flüsse und lichtgebadet im Flachwasser, fangen mikroskopische Algen das Licht ein und verwandeln es in das Wachstum ihrer Zellen. Manchmal „blüht“ dieser Algenwuchs in küstennahen Gewässern so stark, dass nach kurzer Zeit die nötigen Mineralstoffe verbraucht sind und das ganze Fest kippt. Dann weht ein süßlich-stechender Geruch maritimer Verwesung über die Watten.


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mare No. 94

No. 94Oktober / November 2012

Von Andreas Weber und Christian Diehl

Andreas Weber, Jahrgang 1967, Journalist und Schriftsteller in Berlin und Varese Ligure, Italien, scheint seine Liebe zum Watt vererbt zu haben. Als nach einem langen Sommertag an der französischen Atlantikküste das Wasser langsam wiederkehrte, kommentierte sein damals vierjähriger Sohn: „Papa, es ist doch toll, dass die Welt so schön ist.“ Die wissenschaftlich-künstlerischen Bilder zu diesem Artikel haben eine ungewöhnliche Entstehungsgeschichte.

Der Dortmunder Fotograf Christian Diehl, Jahrgang 1970, schnitt einen ein Kubikmeter großen Block aus dem Wattenmeer vor Sylt heraus, zerlegte ihn komplett in seine Bestandteile und lichtete die dabei gefundenen Objekte im Studio ab.

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Vita Andreas Weber, Jahrgang 1967, Journalist und Schriftsteller in Berlin und Varese Ligure, Italien, scheint seine Liebe zum Watt vererbt zu haben. Als nach einem langen Sommertag an der französischen Atlantikküste das Wasser langsam wiederkehrte, kommentierte sein damals vierjähriger Sohn: „Papa, es ist doch toll, dass die Welt so schön ist.“ Die wissenschaftlich-künstlerischen Bilder zu diesem Artikel haben eine ungewöhnliche Entstehungsgeschichte.

Der Dortmunder Fotograf Christian Diehl, Jahrgang 1970, schnitt einen ein Kubikmeter großen Block aus dem Wattenmeer vor Sylt heraus, zerlegte ihn komplett in seine Bestandteile und lichtete die dabei gefundenen Objekte im Studio ab.
Person Von Andreas Weber und Christian Diehl
Vita Andreas Weber, Jahrgang 1967, Journalist und Schriftsteller in Berlin und Varese Ligure, Italien, scheint seine Liebe zum Watt vererbt zu haben. Als nach einem langen Sommertag an der französischen Atlantikküste das Wasser langsam wiederkehrte, kommentierte sein damals vierjähriger Sohn: „Papa, es ist doch toll, dass die Welt so schön ist.“ Die wissenschaftlich-künstlerischen Bilder zu diesem Artikel haben eine ungewöhnliche Entstehungsgeschichte.

Der Dortmunder Fotograf Christian Diehl, Jahrgang 1970, schnitt einen ein Kubikmeter großen Block aus dem Wattenmeer vor Sylt heraus, zerlegte ihn komplett in seine Bestandteile und lichtete die dabei gefundenen Objekte im Studio ab.
Person Von Andreas Weber und Christian Diehl