Dona Henriquetas Dorschwunder

Wäre der Kabeljau nicht schon tot, er wäre stolz darauf, was aus ihm wird. Denn eine alte Portugiesin holt das Letzte aus ihm heraus

Santo Antônio! Du predigtest den stummen Fischen, selbst die verstockten Dorsche, die Stockfische, erhörten dich, der du aus Lissabon stammst und anno 1232, schon ein Jahr nach deinem Tode in Padua, heilig gesprochen wurdest. Dein Segen ruht auf diesem Haus, das deinen Namen führt und sich in den Schatten der Hafenbrücke drückt.

In der „Gruta de Santo Antônio“ kochen Dona Henriqueta Henriques und ihre Söhne Alexandre und Marcelo seit Jahrzehnten nach Rezepten aus der alten Heimat Portugal. Und der König ihrer Küche ist natürlich der Bacalhau. Kabeljau, bah! Ich habe ihn aufessen müssen, den grätigen Dorsch, am Freitag. Und vor dem Zubettgehen sollte ich noch einen Löffel Dorschlebertran herunterwürgen. Kann eine Kindheit schlimmer sein? Ich bitte also um Nachsicht, dass mein Verhältnis zu diesem Fisch belastet war.

Bis der heilige Antonius in seiner Grotte ein kleines Wunder vollzog. Sein Werkzeug war Dona Henriqueta, der mütterliche Erzengel, der unermüdlich aus der Küche zu den Gästen flattert, die sie fast alle beim Namen nennt. Ein Blick durch ihre Brillengläser, und sie muss meine Beklemmung gespürt haben: Auf den Tisch schwebte hernach ein Fisch ohne Gräten, ein Tier ohne Tran, ein weißes Wunder, fest im Biss und sanft wie ein Lamm. Das sollte der gefürchtete Kabeljau sein? Natürlich, Bacalhau! Die Spezialität des Hauses. Wie man sich irren kann.

Bis allerdings der „treue Freund“, wie ihn die Portugiesen nennen – und Dona Henriqueta und ihre Söhne sind nun einmal Portugiesen –, auf dem Teller liegt, ist es ein weiter Weg. Er führt von den Lofoten in die Tropen, von Norwegen ins malerische Hafenviertel von Niterói, in der Guanabarabucht gegenüber von Rio de Janeiros Zentrum. Dona Henriquetas Söhne holen den treuen Freund am Großmarkt ab. Dort, in Benfica, der Vorstadt im Norden, kommt er in Kisten an, filetiert und knochentrocken, hart wie ein Brett.

Der Bursche muss gewässert werden. Wenn diese Wandlung geschieht, sollte man der Küche fernbleiben, selbst beim Schreiben halte ich mir die Nase zu. Doch dann wird endlich alles gut. Der Fisch erblüht zu neuem Leben und steigt wie ein Phönix in die Pfanne. Jetzt erst, nach all diesen vielen Torturen – dem Fang, der Schlachtung, der Salzung (aber nur beim Klippfisch, dem sonst zwillingsgleichen Bruder des Stockfischs!), der Trocknung, der Reise und der Waschung –, zeigt der gute alte Kabeljau, was in ihm steckt: weißes, saftiges, mageres, mundgerechtes Muskelfleisch vom Feinsten.

Die Familie Henriques behandelt den Freund mit allem Respekt. Sie lässt ihm das feine Aroma eines mit allen Wassern gewaschenen Seeräubers und garniert ihn höchstens mit gekochten Kartoffeln, Brokkoli und schwarzen Bohnen, denn die gehören nun einmal in Brasilien dazu.

Die „Gruta de Santo Antônio“ ist nüchtern eingerichtet, wie das an Bord üblich ist: kein Schnickschnack, keine Netze, keine Haigebisse an der Wand, nur ein paar Familienfotos, ein paar schmucke Teller – und natürlich der Herrgottswinkel mit ihm, dem heiligen Antonius. Zwei Räume, zehn Tische, mehr passt hier nicht hinein.

Das Restaurant liegt abseits von touristischen Wegen – wer verirrt sich schon

in die Gassen der Kesselflicker, Ankerschmiede und Seiler? Es sind die Nachbarn, die Kenner, Jünger des Kabeljaus und die Schiffbauer von der Werft nebenan. Und die bekommen in der „Gruta de Santo Antônio“ eine Speisekarte in die Hand, die allen Moden und Stürmen trotzt. Von Molekularküche hat Dona Henriqueta nie gehört, zu unserem Glück. Denn die Portionen sind reichlich.

Ich habe alle Kabeljaukreationen probiert, auch die mit Kichererbsen, Zwiebeln und Rührei; aber am liebsten ist mir der Klippfisch in Kokosmilch. Den wähle ich jetzt immer – bloß nicht am Freitag wie in den Kindertagen. Santo Antônio, du hast zu mir und den Fischen gesprochen! Der Christus drüben auf dem Corcovado gibt seinen Segen dazu. In Brasilien gibt’s zu seinem Wiegenfest nicht Gans, sondern Bacalhau, versteht sich. Versteh ich.

Klippfisch in Kokosmilch
Zutaten für 4 Personen
500 Gramm gesalzener Stockfisch
(Klippfisch), 500 Gramm Kartoffeln, 4 mittelgroße Zwiebeln, 6 reife, mittelgroße Tomaten, 2 Knoblauchzehen, 1 Bund Suppengrün, 1 Tasse Olivenöl, 100 Gramm grüne Oliven, 2 Tassen Kokosmilch.


Zubereitung
Den Fisch eine Stunde wässern, dann in Stücke zerteilen und mit den geriebenen Zwiebeln, den geschnittenen Tomaten, dem zerdrückten Knoblauch, dem gehackten Suppengrün und dem Olivenöl in einen Topf geben und mit wenig Wasser 30 Minuten kochen. Dann mit Wasser aufgießen und die Oliven und die geviertelten Kartoffeln hinzufügen. Wenn diese nach 30 Minuten weich sind, die Kokosmilch einrühren und das Ganze bei stärkerer Hitze einkochen lassen, bis ein dickflüssiger Sud entsteht.

Gruta de Santo Antônio
Rua Silva Jardim, 148, Niterói, Rio de Janeiro;
Tel. +55 (21) 2621-5701;
So bis Mi 11.30–17, Do–Sa bis 23.30 Uhr;
www.grutadesantoantonio.com

mare No. 88

No. 88Oktober / November 2011

Von Carl D. Goerdeler und Nadia Shira Cohen

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Person Von Carl D. Goerdeler und Nadia Shira Cohen
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