Die Vereinigten Kalifate von Amerika

Mit der Behauptung, muslimische Seefahrer hätten mehr als 300 Jahre vor Kolumbus Amerika entdeckt, machte der türkische Präsident Erdoğan einen historischen Streit zum Politikum.

Und wenn Kolumbus gar nicht der Erste war? Wenn vor ihm ganz andere Amerika entdeckt hätten? Und wenn der Seefahrer aus Genua, als er auf der Suche nach Indien am 3. Oktober 1492 vor Kuba lag, tatsächlich eine Moschee sah? Und wenn es also eine Moschee war – wäre dann denkbar, dass lange vor dem katholischen Europäer bereits Muslime auf Kuba siedelten?

Von dieser Möglichkeit ist der Staatspräsident der Türkei so zweifelsfrei überzeugt, dass er öffentlich zur Umdeutung der Weltgeschichte einlädt. Im November 2014 ließ sich Recep Tayyip Erdoğan auf einem Treffen von Muslimen aus Latein­amerika in Istanbul mit geschichtsträchtiger Emphase vernehmen: „314 Jahre vor Kolumbus erreichten muslimische Seefahrer den amerikanischen Kontinent.“ Mit diesem Satz erklärte Erdoğan Amerika zum islamischen Urland und liefert sofort die Be­gründung: „Christoph Kolumbus erwähnt in seinen Erinnerungen die Existenz einer Moschee auf einem Berggipfel an der kubanischen Küste.“

Der türkische Präsident beruft sich auf den umstrittenen, vor allem in muslimischen Netzwerken einflussreichen Historiker Youssef Mroueh von der As-Sunnah Foundation of America. Der gebürtige Libanese schrieb 1996 in einem Aufsatz, Indianerstämme seien zum Islam bekehrt worden, Cherokee und Blackfoot hätten maurische Tracht getragen und Imame ausgebildet, viele amerikanische Orte – beispielsweise die heutige floridanische Hauptstadt Tallahassee (sinngemäß: „Was Gott will, tut er“) – trügen islamische Namen, und auf amerikanischem Boden habe es Koranschulen und islamische Universitäten gegeben, die später von den Europäern zerstört worden seien.

Muss von nun an die Weltgeschichte umgeschrieben werden? Denn wenn vor Kolumbus tatsächlich Muslime auf Kuba gewesen sein sollten, wäre dies freilich ein Zeichen für die frühe Überlegenheit des Islams gegenüber allen christlichen Ländern, für die nautische Brillanz muslimischer Seefahrer, für ihre Fähigkeit präziser Navigation und Messung von Längengraden. Und hätte dann nicht jeder schrifttreue Muslim die heilige Pflicht, im Zug der Bekehrung aller „Ungläubigen“ den alten Zustand eines islamischen Amerikas wiederherzustellen?

Belastbare Fakten von Expeditionen und Atlantikquerungen muslimischer Seefahrer um 1178 sind nicht zu finden, und dass Araber oder Türken die Meere beherrschten, trifft, wenn überhaupt, allenfalls auf mahgrebinische Piraterie an den Küsten des Mittelmeers zu. Die geschichtliche Entwicklung belegt deutlich, dass die Machtzentren der muslimischen Welt von den Meeresküsten sukzessive ins Landesinnere verlegt worden sind: nach Kairo, Bagdad, Damaskus. Das Mittelmeer, aus Sicht der Muslime „See der Römer“, blieb Schau- und Handelsplatz des christlichen Okzidents; Aktionsfeld des Islams waren Wüste und Bergland.

Mit seiner Kolumbusdeutung stellt sich Erdoğan gewollt oder nicht in die Tradition islamischer Interpreten, die weit Größeres im Sinn haben: den sogenannten Abubakari-Mythos und die These von der frühen Vorherrschaft islamischer Kultur. Mit der Geschichte des malischen Königs Abubakari II. soll eine afrozentristische Lesart der Weltgeschichte etabliert werden. Deren Anhänger stützen sich  vornehmlich auf einen vagen Bericht des Syrers Shihab al-Din al-Umari aus dem 14. Jahrhundert, demzufolge die Flotte  von König Abubakaris allahtreuem Sohn  Mansa Musa nach der erfolgreichen Überquerung des Atlantiks im Jahr 1310 Amerika erreicht und dort lange vor den spanischen Expeditionen die Grundlagen für eine islamische Kultur gelegt habe.

Die Quellenlage der Abubakari-Theorie ist dünn – Vertreter des Afrozentrismus berufen sich auf überlieferte Anekdoten, traditionelle Gesänge und Epen, wohingegen die Fachwissenschaft der Kolo­nialhistoriker für die mögliche Existenz des sagenhaften Königs von Mali keine tragfähigen Hinweise finden kann.

Prompt wurde Erdoğans Deutung zurückgewiesen, doch Einwände fechten den türkischen Präsidenten keineswegs an. Zwei Wochen nach seiner Einlassung unterstellte er während eines Treffens der Organisation für Islamische Zusammenarbeit in Istanbul Kritikern seiner Interpretation ein psychologisches Problem. „Nur weil ich ein durch wissenschaftliche Forschung belegtes Faktum wiederholt habe, werde ich angegriffen von westlichen Medien und Fremden unter uns, die an einem Egokomplex leiden.“

Welche Wissenschaft irrt nun?

Niemand Glaubwürdigeres als Kolumbus selbst könnte Aufklärung leisten. Der Volltext seines Bordbuchs von der ersten Amerikafahrt ist bei „Wikisource“ einsehbar, und unter „Montag, 29. Oktober 1492“ heißt es: „Nun beschreibt der Admiral die Lage des Flusses und des Hafenplatzes, von dem weiter oben die Rede war und dem er den Namen San Salvador gegeben hatte. In seiner Umgebung sollen sich schöne, große Berge erheben, wie die Peña de los Enamorados. Einer von diesen hat an seiner Spitze ein Felsengebilde, das einer zierlichen Moschee gleicht.“

Das ist des Pudels Kern: ein Hügel, als wäre er eine Moschee; eine kuppelartige Erderhebung mit minarettartig flankierten Spitzen, ein Berg, ein Hügel, dessen Form einer Moschee gleicht. Eine Metapher also. Und warum wählt Kolumbus diesen Vergleich? Weil, so ist anzunehmen, jeder seiner Leser im Spanien Ende des 15. Jahrhunderts infolge eigener Anschauung gewusst haben muss, wie eine Moschee aussah. Kolumbus’ Auftraggeber, die Krone unter Isabella I. von Kastilien und Ferdinand II. von Aragón, hatte just die katholische Rückeroberung (Reconquista) des islamisch besetzten Andalusien vollzogen, Moscheen in Kirchen umgewandelt und die Muslime des Landes verwiesen.

Mit Erdoğan fordert zum ersten Mal ein höchstrangiger Politiker der Gegenwart zur Revision der Geschichte auf, einerlei, ob seine Deutung des Logbucheintrags Kolumbus’ unbewusst oder bewusst falsch interpretiert ist. Man stelle sich vor, wie anschlussfähig Amerika als muslimisches Kernland im gerade wiederaufgeflammten Kampf der Kulturen wäre! Und wie verlockend für Erdoğan die Aussicht, im Feldzug gegen den Westen als panislamischer Führer die Heerschar der Muslime zu einen. Halbmond über New York – ein Triumph über die Geschichte, ein Triumph über den Westen, als wäre es die Wiederauflage der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen 1453, 40 Jahre vor Kolumbus! Der großtürkische Führer Erdoğan käme so dem Traum, seinem Vorbild Sultan Süleyman dem Prächtigen nachzufolgen, einen großen Schritt näher. Sein Vorstoß kam übrigens just zum Zeitpunkt, da sein 490 Millionen Euro teurer Präsidentschaftspalast in Ankara – mit 1150 Zimmern einer der größten Staats­paläste der Welt – nach vierjähriger Bauzeit eingeweiht wurde.


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mare No. 114

No. 114Februar / März 2016

Von Christian Schüle und Claudia Lieb

Christian Schüle, Jahrgang 1970, ist freier literarischer Autor und Essayist in Hamburg. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter den Roman Das Ende unserer Tage und zuletzt den Essay „Was ist Gerechtigkeit heute?“. Seit 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

Claudia Lieb, geboren 1976, Illustratorin in München, studierte Kommunikationsdesign an der FH Münster und der HAW Hamburg und arbeitet heute freiberuflich für verschiedene Magazine und Verlage.

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Vita Christian Schüle, Jahrgang 1970, ist freier literarischer Autor und Essayist in Hamburg. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter den Roman Das Ende unserer Tage und zuletzt den Essay „Was ist Gerechtigkeit heute?“. Seit 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

Claudia Lieb, geboren 1976, Illustratorin in München, studierte Kommunikationsdesign an der FH Münster und der HAW Hamburg und arbeitet heute freiberuflich für verschiedene Magazine und Verlage.
Person Von Christian Schüle und Claudia Lieb
Vita Christian Schüle, Jahrgang 1970, ist freier literarischer Autor und Essayist in Hamburg. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter den Roman Das Ende unserer Tage und zuletzt den Essay „Was ist Gerechtigkeit heute?“. Seit 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

Claudia Lieb, geboren 1976, Illustratorin in München, studierte Kommunikationsdesign an der FH Münster und der HAW Hamburg und arbeitet heute freiberuflich für verschiedene Magazine und Verlage.
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