Die Top Ten der seerechtlichen Irrtümer

Menschliches Handeln auf Hoher See erzeugt multi­late­rale juris­tische Konflikte, die teilweise höchst schwierig sind. Im öffentlichen Diskurs kursieren darüber reichlich viele Miss­verständnisse. Eine führende Expertin hat den roten Faden

Irrtum No. 1: Die Hohe See ist ein rechtsfreier Raum

Die Hohe See ist ein staatsfreier, aber kein rechtsfreier Raum. Kein Staat übt Souveränität über die Hohe See aus (Artikel 89 Seerechtsübereinkommen, SRÜ), aber alle Staaten haben bestimmte, rechtlich geregelte Freiheiten der Nutzung dieses Raums und auch Pflichten. Sie müssen beispiels­weise die Meeresumwelt der Hohen See schützen und die Fischerei auf ein nachhaltiges Maß beschränken. Die Hochseeschifffahrt unterliegt weiteren Regeln, etwa zur Hilfeleistung bei Seenotfällen. Allerdings funktioniert das zwischenstaatliche Recht, das auf die Hohe See Anwendung findet, anders als nationales Recht. Es gibt im Völkerrecht keine zentrale Rechtsetzungsinstanz, keine verbindliche umfassende Exekutive und kaum Sanktionen für Verstöße. Die Staaten geben sich die Regeln selbst. Es gelten außerdem nur die Verträge, denen ein Staat zugestimmt hat. Längst nicht alle Verträge zum Umweltschutz auf Hoher See oder zum Fischfang genießen breite Zustimmung. Die Durchsetzung von Regeln auf Hoher See obliegt überwiegend den Flaggenstaaten. Wenn diese ihren Pflichten nicht nachkommen, gibt es kaum Möglichkeiten, Rechtsbrüche einzelner Schiffe zu ahnden. Verfahren vor internationalen Gerichten zur Verfolgung von Verstößen gegen seerechtliche Pflichten auf Hoher See sind selten. Die Hohe See ist daher ein fragmentiert geregelter Raum, der an einem Durchsetzungsdefizit leidet. Der Tiefseeboden darunter ist stärker reguliert, soweit die Erforschung und der Abbau mineralischer Rohstoffe erfasst sind. 


Irrtum No. 2: Alle Überfälle auf Schiffe sind Akte der Piraterie

Das Seerechtsübereinkommen definiert nur solche Überfälle auf Schiffe als Piraterie, die von einem anderen Schiff aus durchgeführt werden und der Erzielung eines privaten Zweckes dienen (Artikel 101 SRÜ). In der Regel ist Letzterer ein Vermögensgewinn durch Aneignung des Schiffes, das Wertgegenstände an Bord hat, oder durch die Erpressung von Lösegeld. Außerdem muss der Angriff auf Hoher See stattfinden, um als Piraterie zu gelten. Viele Überfälle geschehen hingegen in den Küstenmeeren von Staaten. Sie sind keine Piraterie im Sinne des Übereinkommens, aber natürlich trotzdem verboten. Das gilt auch für terroristische Angriffe auf Schiffe, egal, wo sie stattfinden. Die Ahndung von Straftaten in Gebieten unter staatlicher Hoheitsgewalt folgt anderen Regeln als die Bekämpfung der Piraterie auf Hoher See. Zuständig für die Verfolgung nach ihrem nationalen Strafrecht sind hier die Küstenstaaten. Piraterie auf Hoher See kann hingegen von jedem staatlichen Schiff bekämpft werden, egal, unter welcher Flagge es fährt, und unabhängig davon, welcher Nationalität das betroffene Schiff, die Crew oder die Piraten sind.


Irrtum No. 3: Der Internationale Seegerichtshof ist für die Verurteilung von Piraten zuständig

Einige Prozesse gegen somalische Staatsangehörige, die der Piraterie in den Gewässern vor dem Horn von Afrika beschuldigt wurden, fanden in Hamburg statt und endeten mit Freiheitsstrafen wegen erpresserischen Menschenraubs und eines bewaffneten Angriffs gegen den Seeverkehr. Sie wurden vor einer Strafkammer des Landgerichts geführt, also vor einem deutschen Gericht und nach deutschem Strafrecht. Der Internationale Seegerichtshof, der seinen Sitz ebenfalls in Hamburg hat, hatte mit diesen Prozessen nichts zu tun. Es handelt sich dabei nicht um ein Gericht mit Strafgewalt über Einzelpersonen, selbst wenn diese Taten begangen haben, die das Seerechtsübereinkommen als Piraterie definiert. Es handelt sich um einen internationalen Gerichtshof, der fast ausnahmslos in zwischenstaatlichen Streitigkeiten tätig wird. Lediglich Vertragsstaaten zum Seerechtsübereinkommen können sich an den Gerichtshof wenden, wenn sie eine Streitigkeit über die Auslegung und Anwendung des Abkommens beilegen wollen (Artikel 286 SRÜ), zum Beispiel bezüglich der Festlegung einer Seegrenze, der Freigabe eines Schiffes unter der Flagge des klagenden Staates oder Umwelt- und Fischereibestimmungen.

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mare No. 164

mare No. 164Juni / Juli 2024

Von Nele Matz-Lück und Holger Nimtz

Nele Matz-Lück, Jahrgang 1973, liebt am Meer vor allem den ständigen Wandel, die Farben und die Weite und hat das Glück, die Liebe zum Ozean als Professorin für Seerecht zum Beruf gemacht zu haben.

Der Fotograf Holger Nimtz, Jahrgang 1972, lebt und arbeitet in Lychen in der Uckermark. In seinen Arbeiten fokussiert er leidenschaftlich gern auf das Meer. Er mag es, die abstrakten Seiten der Natur aufzuspüren sowie Formen und Farben harmonisch zu kombinieren, wie etwa bei dem Titelbild zu mare No. 161.

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Vita

Nele Matz-Lück, Jahrgang 1973, liebt am Meer vor allem den ständigen Wandel, die Farben und die Weite und hat das Glück, die Liebe zum Ozean als Professorin für Seerecht zum Beruf gemacht zu haben.

Der Fotograf Holger Nimtz, Jahrgang 1972, lebt und arbeitet in Lychen in der Uckermark. In seinen Arbeiten fokussiert er leidenschaftlich gern auf das Meer. Er mag es, die abstrakten Seiten der Natur aufzuspüren sowie Formen und Farben harmonisch zu kombinieren, wie etwa bei dem Titelbild zu mare No. 161.

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Nele Matz-Lück, Jahrgang 1973, liebt am Meer vor allem den ständigen Wandel, die Farben und die Weite und hat das Glück, die Liebe zum Ozean als Professorin für Seerecht zum Beruf gemacht zu haben.

Der Fotograf Holger Nimtz, Jahrgang 1972, lebt und arbeitet in Lychen in der Uckermark. In seinen Arbeiten fokussiert er leidenschaftlich gern auf das Meer. Er mag es, die abstrakten Seiten der Natur aufzuspüren sowie Formen und Farben harmonisch zu kombinieren, wie etwa bei dem Titelbild zu mare No. 161.

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