Die Schmetterlinge von São Francisco

Samba, Sex und Sehnsucht – eine Reportage über Leben und Lieben brasilianischer Hafenmädchen

Für den Ausflug haben sie sich extra schick gemacht, die Jeans gebügelt und die knappen Tops übergestreift. Zehn fein geschminkte Gesichter unter einem sternenklaren Himmel, zwanzig Füße, die auf dem algenbewachsenen Betonufer der Lagune unsicher Halt suchen. Orlando* steht im dunklen Wasser und kurbelt an der Bootswinde.

São Francisco do Sul, Bundesstaat Santa Catarina, drittälteste Stadt Brasiliens, nie über 35 000 Einwohner hinausgekommen: ein gemütliches Hafenkaff, durch dessen Straßen die Leute – anders als in Rio oder Santos – auch nachts alleine laufen, ohne die Angst, plötzlich eine Klinge am Hals zu spüren. Drei Kirchen, zwei Schulen und eine Fabrik. Kein Kino, ein Marinemuseum und zwei Hotels. Verhältnis Frauen/Männer: vier zu eins.

Sonntagnachmittag, 37 Grad Celsius. Ein einziges Schiff liegt an der Hafenpier: der rostige Bulkcarrier „Joy Sky“. Träge rieselt das Sojamehl in seinen Bauch, keine Arbeit für die Stauer. Der Wachmann angelt an der Uferböschung, und die Hafenarbeiter trinken ihr Bier bei John, einem Kreolen, der früher mal Schiffssteward war und sich vor zwanzig Jahren hier verliebt hat. Nach einem Jahr war die Ehe kaputt, aber John blieb. In einer grobgezimmerten Baracke am Rio Mangue betreibt er eine Bar – gleich neben der Lanchonete „Love Story“. Die „Love Story“ lockt mit „seaman’s disco – beautiful girls“. Kein Bordell, eher Begegnungsstätte mit maritimem Interieur und Partnergarantie für Seeleute auf der Durchreise: Schiffsflaggen, Rettungsringe und Vergnügen für eine Nacht – Samba, Sex und Sehnsucht, geöffnet ab 13 Uhr. Aber da ist heute auch nicht viel los. Haushund Bobby hockt am Eingang, schwenkt den Kopf von links nach rechts. Kein Seemann ist in Sicht, nur der Eisverkäufer mit seiner Holzklapper. Ein paar Mädchen sitzen auf Baststühlen an Tischen mit gelben Stofftischdecken, Babies auf dem Schoß. Mutterschaftstreffen im Freizeitdress: weite T-Shirts, Shorts und Badeschlappen.

Draußen brennt die Sonne, drinnen drehen sich die Flügel der Deckenventilatoren. Ein Mädchen präsentiert ihr Neugeborenes und ein fliegender Händler seine Ware – Babykleidung, was sonst? Kritische Hände betasten Strampelanzüge. „Leihst Du mir 15 Reais?“ Fünf Frauen teilen sich drei Cola und den Klatsch der Stadt.

Warten auf Schiffe, warten auf Seeleute. In Bela Vista, dem ärmsten Viertel von São Francisco, hocken die anderen Hafenmädchen auf der Veranda einer Holzhütte und schauen auf das glitzernde Wasser der Lagune. Bela Vista – schöne Aussicht. Sandra spielt auf der Gitarre Janis Joplin: „Oh Lord, would you buy me a Mercedes Benz?“ Marihuanaschwaden lösen sich langsam in der Nachmittagsluft auf. Die Zeit fließt so zäh wie die Uhren auf den Bildern Salvador Dalís.

Die Hütte gehört Renata, die sogar mal auf den Philippinen war. Ihr Heim ist eine Art offenes Haus für Seemänner. Die haben sich über die Jahre an den Wänden verewigt: „Ich habe keine Angst davor, mir die Kugeln um den Kopf fliegen zu lassen, aber ich habe Angst vor dem Wort ,nein‘ von dem Mädchen, das ich liebe. 1979“ Oder, souveräner, der japanische Kapitän Akira Kobayashi: „Wir kamen, wir sahen, wir siegten!“

Daneben hängt ein Ölbild der „Joy Sky“, darüber ein ein Meter langes Modell der „Marie-Jeanne“, von innen beleuchtet. Handgemachte Souvenirs von Freunden, die seit Jahren kommen. Wer kein Geld für die „Love Story“ hat, feiert bei Renata mit Whisky vom Supermercado nebenan und freiem Blick auf das Meer. Aber gerade tut sich nichts im Schiffsverkehr. Also haben die Mädchen einen Entschluß gefasst: „Kommen die Schiffe nicht in den Hafen, kommen wir zum Schiff!“ Kapitän und Crew sind eingeweiht, die Sachen bereits gepackt. Wenn es dunkel ist, wird Orlando sie für sechzig Dollar rüberbringen – zur „Lucky Day“, zu den Filipinos, die mit ihrem Frachter seit Tagen vor Reede liegen, abgeschnitten vom Landleben, von der „Love Story“ und von Renatas Holzhütte. Die einzigen weiblichen Wesen an Bord sind zwei kleine Schweine – Festtagsschmaus für später.

Jetzt treibt der Wind die Wellen über die Lagune. Als die Mädchen endlich ins Boot einsteigen, rutscht eine von ihnen auf dem Ufer aus und landet im Wasser. Orlando schmeißt den Außenborder an, die „Eluah“ dreht ab und hüpft über die Wellen wie ein Surfbrett. Nur dass das knapp acht Meter lange Boot mit seinen Passagieren ziemlich überladen, die Wasserlinie gefährlich nahe ist und der Gischt in die geschminkten Gesichter spritzt. Das Boot kippelt, und einige Mädchen beginnen zu Gott zu beten. Eine ist im vierten Monat schwanger. Doch das hier ist keine Erholungstour, eher ein Arbeitseinsatz.

Endlich kommt das Schiff in Sicht. Wie Blei liegt der riesige Rumpf im Wasser. Die Windböen können dem Koloß nichts anhaben. David trifft auf Goliath: Das kleine Fischerboot tanzt mit seiner fragilen Fracht in der Dünung, während die philippinische Crew keine Anstalten macht, die Gangway herabzulassen.

Stattdessen glotzen die Seeleute erstmal durch ihre Ferngläser auf das kleine Boot, das da geisterhaft vor ihnen auftaucht – es könnten ja auch Piraten sein. Die Mädchen starren an der fünfzehn Meter hohen Schiffswand hoch und rufen: „Ihr Arschlöcher!“ Da senkt sich die hydraulische Treppe. Die Mädchen erklimmen im Gänsemarsch die Gangway. Kurz darauf ist die „Lucky Day“ in ihrer Gewalt. Über Nacht werden sie den Schüttgutfrachter in einen Vergnügungsdampfer verwandeln, für fünfzig oder auch nur dreißig Dollar pro Mann die Kojen der Seeleute beleben, vor allem aber die Kombüse: Drinks und Shrimps sind inklusive. An Alkohol und zollfreien Zigaretten wird kein Mangel sein, die Duschen sind besser als zu Hause.

Es gibt eine Waschmaschine und natürlich Video. Also doch auch eine Art Ferien, und zwar bezahlt. Zunächst jedoch müssen die Rollen verteilt werden. Wer mit wem? Man kennt sich ja nicht. Und die Crew der „Lucky Day“ ist noch unerfahren, zum ersten Mal in Brasilien. Teopolio, der Kapitän, übernimmt die Regie. Schüchterne Seeleute führt er persönlich in die Mannschaftsmesse, wo die Mädchen Darts spielen und warten. Eine Lichterkette blinkt, Lovesongs dringen aus der bordeigenen Stereoanlage, die ersten Brandyflaschen stehen auf dem Tisch, und doch herrscht eine Atmosphäre wie beim Tanzkurs für Anfänger. „Hat jetzt jeder einen Partner?“ fragt Teopolio. Erst beim Karaoke löst sich die Stimmung. Wehmütige Stimmen schmettern „Bridge over troubled water“ ins Mikrofon, während weiße Schwäne in Weichzeichneroptik über den Videoschirm flimmern. Das läßt auch die Herzen der Mädchen nicht kalt. Ein ums andere Paar verschwindet schließlich im Decksaufbau. Später huschen Ana und Joanna in weißen Nachthemden durch die Schiffsflure, andere Mädchen gar in Hauspuschen. An alles haben sie gedacht, aber wo ist jetzt die Zahnpasta? Für Kondome sorgt die Bordapotheke.

Am nächsten Morgen trinken müde Mädchen Nescafé, und grinsende Jungs tauschen ihre Heldentaten aus. Auch Kapitän Teopolio ist zufrieden mit seiner Entscheidung, die Damen an Bord zu lassen. Der Besuch ist nicht ungefährlich für ihn – und auf jeden Fall illegal. Denn vor Reede gilt die „Lucky Day“ als ausländisches Territorium, die Polícia Federal sollte besser nichts von der Aktion erfahren. Außerdem ist Teopolio ein gottesgläubiger Mann. Aber dient nicht alles nur dem Wohl der Mannschaft und damit dem Bordfrieden? Doch, sagt sich der katholische Kapitän, es ist im Sinne der Liebe. Und er selbst ging schließlich leer aus, denn seine Liebste blieb an Land.

Janaina sitzt auf einem der roten Plastikschalensitze am Tresen der „Love Story“ und ärgert sich. Ausgerechnet sie wollte der Kapitän nicht an Bord haben; dabei ist sie doch wirklich in ihn verliebt. Stattdessen ist dann ihre Schwester Eliane mitgefahren, und während die ihr den Käpt’n wahrscheinlich gleich weggeschnappt hat, hat sie die Nacht unter der Last eines Hundert-Kilo-Mannes verbracht. Während er über ihr stöhnte, bekam sie fast keine Luft mehr, scheiß’ Typ. Aber sie wird ihren Käpt’n schon noch kriegen.

So kommt es dann auch. Am nächsten Tag bringt Orlando Janaina zur „Lucky Day“. Und es dauert nicht lange, bis der Kapitän kapituliert. Auch der Master ist nur ein Mann, der wohl den Wogen des Meeres trotzt, aber nicht den Kurven der zwanzigjährigen Brasilianerin. Janaina bleibt mit den anderen Mädchen die nächsten Tage an Bord, Eliane fährt mit dem Fischer zurück. Nicht wegen des Kapitäns; da war nichts. Aber ihr Boyfriend wollte plötzlich wechseln. Etwas verlegen gestand ihr der Chief Engineer, dass er sich in eine andere verguckt habe. Eliane, 30, mahagonigefärbtes Haar, schwarze Nike-Schuhe, weißes T-Shirt mit Playboy-Bunny-Emblem über Hotpants, Elaine dreht an ihrem goldenen Ring mit Ankerrelief, Geschenk eines Seemannes, und murmelt: „Okay, okay.“ Kann man nichts machen. Nur als sie später erfährt, dass die andere eine Freundin von ihr ist, die sich auf zwanzig Dollar runterhandeln ließ, ist sie genervt. Das verdirbt die Preise.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 10. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 10

No. 10Oktober / November 1998

Von Roland Brockmann und Bastienne Schmidt

Dank an Helena, Ana Paula, Andrea, Familie Berlinck, Bianca, Christina, Gabriela, Lia, Loucivania, Marissa, Raquel, Regina, Simone und allen anderen Mädchen der Love Story.

Roland Brockmann, Jahrgang 1961, fuhr in seiner Jugend selbst zur See und lebt als freier Journalist in Berlin. Zuletzt erschien in mare No.7 seine Reportage über Piraterie in Südamerika.

Bastienne Schmidt, Jahrgang 1961, studierte Malerei und Fotografie in Perugia und lebt als freie Fotografin in New York. Das Museum of Modern Art in New York und die Bibliothèque Nationale in Paris haben Bilder von ihr erworben. Die Reportage über die Hafenhuren ist ihre erste Arbeit für mare.

Mehr Informationen
Vita Dank an Helena, Ana Paula, Andrea, Familie Berlinck, Bianca, Christina, Gabriela, Lia, Loucivania, Marissa, Raquel, Regina, Simone und allen anderen Mädchen der Love Story.

Roland Brockmann, Jahrgang 1961, fuhr in seiner Jugend selbst zur See und lebt als freier Journalist in Berlin. Zuletzt erschien in mare No.7 seine Reportage über Piraterie in Südamerika.

Bastienne Schmidt, Jahrgang 1961, studierte Malerei und Fotografie in Perugia und lebt als freie Fotografin in New York. Das Museum of Modern Art in New York und die Bibliothèque Nationale in Paris haben Bilder von ihr erworben. Die Reportage über die Hafenhuren ist ihre erste Arbeit für mare.
Person Von Roland Brockmann und Bastienne Schmidt
Vita Dank an Helena, Ana Paula, Andrea, Familie Berlinck, Bianca, Christina, Gabriela, Lia, Loucivania, Marissa, Raquel, Regina, Simone und allen anderen Mädchen der Love Story.

Roland Brockmann, Jahrgang 1961, fuhr in seiner Jugend selbst zur See und lebt als freier Journalist in Berlin. Zuletzt erschien in mare No.7 seine Reportage über Piraterie in Südamerika.

Bastienne Schmidt, Jahrgang 1961, studierte Malerei und Fotografie in Perugia und lebt als freie Fotografin in New York. Das Museum of Modern Art in New York und die Bibliothèque Nationale in Paris haben Bilder von ihr erworben. Die Reportage über die Hafenhuren ist ihre erste Arbeit für mare.
Person Von Roland Brockmann und Bastienne Schmidt