Die Scham erobert den Ozean der Liebe

Für Seefahrer war die Südsee das erotische Paradies. Bis die Missionare europäische Sitten aufzogen

Als die nackten jungen Mädchen an Bord kletterten, hatte der Pazifik seinen Ruf als „Ozean der Liebe“ weg. Der französische Entdecker Louis-Antoine Bougainville, der 1768 die Südseeinsel Tahiti erreichte, beschrieb die Freizügigkeiten, als plötzlich die Frauen der Insel sein Schiff besuchten: „Die meisten dieser Nymphen waren bloß. Die Männer suchten uns zu bewegen, eine Frau zu wählen, und sie gaben uns zu verstehen, auf welche Weise wir uns mit ihr beschäftigen sollten.“ Sie ließen sich gerne anschauen, berühren und ohne viel Aufhebens zum Sex bewegen – und waren dabei offenbar völlig hemmungslos.

Ein Paradies? Stärker jedenfalls konnte der Kontrast nicht sein: Sechs, acht Monate waren die europäischen Matrosen unterwegs, von Stürmen bedroht und vom Skorbut geplagt, bis sie endlich die Archipele von Polynesien und Melanesien erreichten. Dort wartete dann die Lust und zuweilen auch die Liebe. Was Bougainville und nach ihm zahllose weitere Pazifikreisende verblüffte, war die Abwesenheit jedes Gefühls von Besitz, Schuld oder Sünde, wenn die Inselbewohnerinnen mit den Fremden schliefen. Die weißen Seefahrer hingegen, von den „Orgien“ überwältigt, brauchten nur wenige Jahre, um Eifersucht und Rache, ja Mord und Totschlag aus Leidenschaft nach Tahiti zu exportieren.

Sofort entstand ein Image. Der Philosoph Denis Diderot, ein romantischer Aufklärer, stellte die arglose Nacktheit der Tahitianer gegen die naturwidrigen europäischen Sitten. Damit begründete er das Bild von der Reinheit der Südseekulturen, das sich in unseren Breitengraden bis zur Gegenwart gehalten hat. In seiner „Beurteilung der Reise Bougainvilles“ (1796) lässt Diderot einen Tahitianer den Seefahrer anklagen: „Unsere Töchter und unsere Frauen gehören uns allen; du hast dieses Vorrecht mit uns geteilt, hast in ihnen aber fremde Leidenschaften entfacht. Unsere Genüsse, früher so hold, sind jetzt von Reue und Angst begleitet. Seitdem zögern unsere Jünglinge und erröten unsere Mädchen. Sie essen, um zu leben und zu wachsen, sie wachsen heran, um sich zu vermehren, und finden dabei weder Laster noch Schande.“ Doch diese Zeiten gingen nun zu Ende.

Erheiternder war da die Geschichte des Missionars William Harris, der sich 1791 auf der Marquesas-Insel Tahuata absetzen ließ. Britische Seeleute fanden den Mann einige Tage später in den Bergen versteckt, „in erbärmlichem Zustand und wie von Sinnen“. Der örtliche Häuptling hatte Harris seine Frau angeboten, der aber entrüstet ablehnte. Das ließ sich die Frau des Häuptlings nicht gefallen – sie und einige Freundinnen wollten sich auch gegen den Willen von Harris überzeugen, dass er wirklich ein Mann war.

Und amüsant fanden die Zeitgenossen auch Berichte über Captain Cooks Besuch bei Fatafehi Paulah, von 1770 bis 1784 König von Tonga, dessen heilige Pflicht es war, jedes Mädchen seiner Insel persönlich zu deflorieren. Dieser Aufgabe habe er sich acht bis zehn Mal am Tag gewidmet und so, errechnete ein Scherzbold später, unter Einbeziehung von Krankheits- und anderen Fehlzeiten um die 37800 Entjungferungen geschafft.

Der Schriftsteller Herman Melville ging 1842 von Bord eines Walfängers und verbrachte einige Wochen auf der zu den Marquesas gehörenden Insel Nuku Hiva. Deren Bewohner, die Taipis, waren tätowierte Kannibalen, die frühreife Kinder und Frauen mit mehreren Ehemännern hatten – und zudem Feste, auf denen die Genitalien verehrt und deswegen auch die eigenen zur Schau gestellt wurden. Missionare hatten die Insel voller Entsetzen wieder verlassen und ihren Bewohnern jede Menschlichkeit abgesprochen.

Doch Melville stellte sich der Fremdheit, erforschte das Strafsystem des Kannibalismus und entdeckte: „Menschlichere, freundlichere und liebenswürdigere Menschen gibt es im ganzen Pazifik nicht.“ Für ihre „eigenen“ Inseln mochten sich dem auch Autoren wie Robert Louis Stevenson, Jack London, Somerset Maugham oder James Michener anschließen.

Homosexualität in der Südsee thematisierte als Erster Edward Morgan Forster. In „The Life to Come“ (1922) schläft der schwule Prediger Pinmay mit dem Häuptling Vithobai. Der bringt den Weißen später um und begeht dann Selbstmord. Wie bei Diderot war es im Ozean der Liebe mit der Romantik schnell vorbei. Aufgeklärte Zuneigung oder frivole Verachtung waren die Extreme, zwischen denen die vielen Berichte aus dem Pazifik pendelten. Über eineinhalb Jahrhunderte lang bestimmten letztlich Neugier oder Niedertracht die sexuellen Vorstellungen und Erfahrungen.

Bis der polnische Völkerkundler Bronislaw Malinowski 1929 seine Studie „Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwest-Melanesien“ veröffentlichte, die nach einem neuen wissenschaftlichen Konzept geschrieben war. Malinowski suchte auf den Trobriand-Inseln vor der Küste Neuguineas nach der Bedeutung all dieser exotischen Sitten und Gebräuche. Diese „funktionalistische“ Wissbegierde stillte der Forscher, indem er mit den zu Erforschenden lebte und vor allem ihre Sprache lernte; Malinowski wurde so zum Begründer der „teilnehmenden Beobachtung“.


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mare No. 31

No. 31April / Mai 2002

Von Dietmar Bartz

Dietmar Bartz, Jahrgang 1957, Redakteur der Tageszeitung in Berlin, spürte der Etymologie der „Missionarsstellung“ nach und entdeckte dabei den „Ozean der Liebe“.

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Vita Dietmar Bartz, Jahrgang 1957, Redakteur der Tageszeitung in Berlin, spürte der Etymologie der „Missionarsstellung“ nach und entdeckte dabei den „Ozean der Liebe“.
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Vita Dietmar Bartz, Jahrgang 1957, Redakteur der Tageszeitung in Berlin, spürte der Etymologie der „Missionarsstellung“ nach und entdeckte dabei den „Ozean der Liebe“.
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