Die letzte Zeugin

Denise Toros-Marter ist die letzte Holocaust-Überlebende in Marseille. Mit mare spricht sie über ihr jüdisches Leben in der Hafenstadt, ihre einstige Hoffnung auf ein rettendes Schiff und darüber, dass sie auf ihr Land derzeit mehr aufpassen muss

Sie ist etwas früher aufgestanden an diesem Dienstag Ende August, im Namen der Republik. Die Einladung an sie kam von ganz oben, der französische Präsident hat sich angesagt, dazu Präfekten, Minister. Noch ist der Morgen still. In ihre kleine Hochhauswohnung beim Bahnhof Blancarde in Marseille wird gleich eine Pflegerin kommen und ihr beim Waschen und Anziehen helfen. Die schwarz-weiße Bluse hat sie schon herausgelegt. 96 Jahre alt ist Denise Toros-Marter jetzt.

Von ihrem Balkon blickt sie nach Süden. Erste Sonnenstrahlen schießen über die Hügel Richtung Meer. Sie mag dieses Morgenlicht. Hinter den Hügeln Richtung Cassis liegen die Calanques, einst ausgetrocknete Flusstäler, die sich wie schmale Fjorde durch den ­Kalkstein ins Mittelmeer winden. Davor liegt das Gefängnis Les Baumettes. Die Deutschen haben sie dort eingesperrt, im April 1944. 

Nun will man sie ehren, an diesem 27.  August, die alte Dame mit dem skeptischen Blick und dem scharfen Verstand. Es ist der 80.  Jahrestag der Befreiung von Marseille. Jenen Tag verbrachte sie damals in Auschwitz-Birkenau, durch Scharlach geschwächt, in Block 24. Einige Monate später, sie wog noch 33 Kilogramm, werden ihr die Zehen ihres linken Fußes abfrieren. 

Mit einem Rollator schiebt sie sich von ihrer Terrasse durch die Küche ins Wohnzimmer. Sie gehe auf Reisen, sagt sie manchmal, wenn sie von Zimmer zu Zimmer zieht. Es kann etwas dauern, aber sie beißt sich durch.

In einer Vitrine ihres Wohnzimmers bewahrt sie Fotos ihrer Familie auf und einige Orden. An diesem Tag soll sie zum Grand Officier der französischen Ehren­legion ernannt werden. Viel mehr geht für normale Menschen kaum, „die Orden darüber gibt es fast nur für Präsidenten“, sagt Toros-Marter.

Sie ist eine Institution in Marseille. Sie ist aufgestanden, als selbst ernannte Historiker in Frankreich damit begannen, den Holocaust zu bezweifeln. Als Jean-Marie Le Pen die Gaskammern, in denen ihre Eltern und ihre Großmutter umkamen, als „Detail“ der Geschichte des Weltkriegs bezeichnete. Damals entschloss sie sich zur Gegenwehr und dazu, ihre Biografie zu schreiben. Sie ist an Krücken in Schulen gegangen, um ihre Geschichte zu erzählen. Um Kinder gegen Totalitarismus zu immunisieren. 

Ihre Geschichte ist die eines Mädchens aus Marseille, das mit 16 Jahren mit ihrer Familie nach Auschwitz deportiert wurde, weil sie jüdisch war. Denise Toros-Marter ist eine der letzten Zeuginnen, die davon erzählen können, wie es vor dem Krieg war und wohin deutscher Rassenwahn geführt hat.

Als sie im April 1928 geboren wird, platzt die 2600 Jahre zuvor von griechischen Seefahrern gegründete Hafenstadt aus allen Nähten. Zu den vielen verarm­ten italienischen Landarbeiterfamilien, die in Marseille auf eine neue Chance hoffen, kommen in den 1920er-Jahren Tausende Russen, die vor dem Bürgerkrieg in ihrem Land fliehen, und Armenier, die sich vor den Türken in Sicherheit bringen müssen.

Viele ausländische Familien leben in baufälligen Militärbaracken oder in heruntergekommenen Häusern in den engen Gassen des hafennahen Viertels Panier. Als Ende der Zwanzigerjahre die Weltwirtschaft wackelt, gibt es Hetzjagden auf italienische Hafenarbeiter, die als chiens du quai (Kaihunde) verspottet werden.

Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 166. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 166

mare No. 166Oktober / November 2024

Von Nils Klawitter und Dmitrij Leltschuk

Als ihm die 96-jährige Denise Toros-Marter mit ihrem Rollator die Tür öffnete, hatte der Hamburger Autor Nils Klawitter, Jahrgang 1966, nicht damit ­gerechnet, dass sie später noch gemeinsam eine kleine Spritztour durch Marseille machen würden, dass er die ehemalige Werkstatt ihres Vaters sehen sollte und sie zusammen von Notre-Dame de la ­Garde aufs Meer blicken würden.

Dmitrij Leltschuk, geboren 1975 in Minsk, lebt als freier Fotograf in Hamburg. Zum ersten Mal in Marseille, empfand er die Stadt mit ihren Street-Motiven als fotografisches Paradies. Zwar ignorierte Dmitrij diesmal noch die vielen Motive, versprach der Stadt aber wiederzukommen.

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Als ihm die 96-jährige Denise Toros-Marter mit ihrem Rollator die Tür öffnete, hatte der Hamburger Autor Nils Klawitter, Jahrgang 1966, nicht damit ­gerechnet, dass sie später noch gemeinsam eine kleine Spritztour durch Marseille machen würden, dass er die ehemalige Werkstatt ihres Vaters sehen sollte und sie zusammen von Notre-Dame de la ­Garde aufs Meer blicken würden.

Dmitrij Leltschuk, geboren 1975 in Minsk, lebt als freier Fotograf in Hamburg. Zum ersten Mal in Marseille, empfand er die Stadt mit ihren Street-Motiven als fotografisches Paradies. Zwar ignorierte Dmitrij diesmal noch die vielen Motive, versprach der Stadt aber wiederzukommen.

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Als ihm die 96-jährige Denise Toros-Marter mit ihrem Rollator die Tür öffnete, hatte der Hamburger Autor Nils Klawitter, Jahrgang 1966, nicht damit ­gerechnet, dass sie später noch gemeinsam eine kleine Spritztour durch Marseille machen würden, dass er die ehemalige Werkstatt ihres Vaters sehen sollte und sie zusammen von Notre-Dame de la ­Garde aufs Meer blicken würden.

Dmitrij Leltschuk, geboren 1975 in Minsk, lebt als freier Fotograf in Hamburg. Zum ersten Mal in Marseille, empfand er die Stadt mit ihren Street-Motiven als fotografisches Paradies. Zwar ignorierte Dmitrij diesmal noch die vielen Motive, versprach der Stadt aber wiederzukommen.

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