Die letzte Grenze

Aus Sehnsucht nach Neuland rühren wir in der Tiefsee an eine Zivilisationsgrenze, die in mancher Hinsicht an die mythisch verklärte „final frontier“ der amerikanischen Geschichte erinnert

Was treibt Menschen an, die Zivilisation hinter sich zu lassen und an Orte vorzudringen, an denen nicht nur bisher kaum ein Mensch war, sondern an denen es auch keine Rettung gibt, wenn ein Unglück passiert? Als im Sommer 2023 das Tauchboot „Titan“ von einer Sekunde auf die andere verschwand, war die weltweite Bestürzung groß. Nicht nur, dass es wie eine böse Ironie der Geschichte erschien, dass rund 100 Jahre nach dem Untergang der „Titanic“ in unmittelbarer Nähe von deren Wrack Menschen vermisst wurden; es beschäftigte auch weit entfernt lebende Zuschauer dieses Schiffbruchs die kollektive Hilflosigkeit. Die zweite Katastrophe an derselben Stelle wie 1912 der Untergang des Transatlantikliners zeigte, dass sich zwar die Welt oberhalb des Meeresspiegels verändert hatte, aber unterhalb noch immer eine Art Gegenwelt existiert, auf die der Mensch praktisch keinen Zugriff hat. 

Denn die Tiefsee ist nicht nur der letzte nahezu unerforschte Bereich dieses Planeten, sondern der mit Abstand am schwierigsten zugängliche. Sie bleibt für fast alle Menschen unerreichbar, aufgrund ihrer absolut feindlichen Lebensbedingungen zuvorderst, aber auch aufgrund eines fehlenden Profitversprechens, das eine Infrastruktur verhindert hat, die eine massenhafte Besiedelung oder auch nur Bereisung dieser Welt möglich gemacht hätte. Das hat auch etwas mit den enormen Kos­ten zu tun, die für ein Tiefseeabenteuer aufgerufen werden müssen und den freien Markt als eine der wichtigsten Trieb­federn für die Entdeckung von Neuland an diesem Ort versagen lassen. Die unsichtbaren Netze der Warenströme, die mittlerweile fast den gesam­ten Planeten umfassen, sie lassen diesen Lebensraum im Dunkeln aus. Er bleibt weitgehend ungesehen, was nicht weniger als ein kleines Wunder darstellt in der Welt dieses Jahrtausends.

In jener Welt der audiovisuellen Medien, die man früher ­unter dem Begriff Kino zusammenfasste, gibt es ein Genre, das von der Faszination unentdeckter Welten und der Sehnsucht davon erzählt, Neuland zu entdecken, das schon in der frühesten Phase des Kinos, praktisch mit Beginn jener Epoche, entstand, als sich Bilder plötzlich zu bewegen begannen: der Western. Er erzählte von Beginn an nicht nur von einer damals gar nicht so weit zurückliegenden historischen Epoche. Im Erfolg der Reinszenierung der Besiedelung des amerikanischen Westens durch weiße Eroberer drückt sich vielmehr ein geradezu mythisches Urbedürfnis der menschlichen Psyche aus: die Besiedelung von Neuland und die Grenzüberschreitung. 

Folgt man der Genretheorie der Filmwissenschaft, verhält es sich mit jedem Genre so. Während im Melodram unerfüllbare Sehnsüchte stellvertretend auf der Leinwand verhandelt werden, versucht der Kommissar im Detektivfilm die bedrohte Ordnung der Welt wiederherzustellen. Unseren kollektiven Ängsten stellen wir uns im Horrorfilm im sicheren Raum des Kinosaals, während die Zuschauer der Komödie gemeinsam mit den Protagonisten auf der Leinwand gerade noch einmal davonkommen, angesichts der Fallstricke und drohenden Tragödien des Lebens. Jedes filmische Genre appelliert an eine psychische Disposition des Zivilisationsmenschen, und der Western verhandelte von Beginn an die antizivilisatorische, nämlich den Wunsch, auszubrechen aus einem durchorganisierten und technologisierten Alltag, den Wunsch, eben jenen Sicherheit bietenden Lebensraum hinter sich zu lassen, den die westliche Zivilisation in den vergangenen Jahrhunderten mühsam errichtet hatte. 

Dass der Western auf der Leinwand dabei mitunter wenig mit der historischen Neubesiedelung des amerikanischen Wes­tens durch Weiße zu tun hatte, spielte für den Erfolg des Genres eine untergeordnete Rolle. Gerade weil die Verbrechen an der indigenen Bevölkerung meist ausgeblendet wurden, konnten sich die Besucher des dunklen Kinoraums umso ungestörter ­ihrer Sehnsucht hingeben, die eigene final frontier endlich in Richtung Neuland zu verschieben. Es war die mythologische Auseinandersetzung mit einer endgültigen Zivilisationsgrenze, die es schon damals in den Vereinigten Staaten nicht mehr gab und die heute erst recht fast gänzlich von unserem Planeten verschwunden ist.


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mare No. 164

mare No. 164Juni / Juli 2024

Von Alexander Kohlmann

Alexander Kohlmann, geboren 1978, er­ar­bei­tete als Theaterdramaturg eine Adaption des Spielfilmklassikers „Spiel mir das Lied vom Tod“ als Kreuzung von Science-Fiction und Western. Unendliche Weiten auf dem Meeresgrund hat er zuerst als Kind Mitte der 1980er-Jahre in der „Tagesschau“ ­gesehen, als die ers­ten Fotos des „Titanic“-Wracks über den Bildschirm flimmerten.

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Vita Alexander Kohlmann, geboren 1978, er­ar­bei­tete als Theaterdramaturg eine Adaption des Spielfilmklassikers „Spiel mir das Lied vom Tod“ als Kreuzung von Science-Fiction und Western. Unendliche Weiten auf dem Meeresgrund hat er zuerst als Kind Mitte der 1980er-Jahre in der „Tagesschau“ ­gesehen, als die ers­ten Fotos des „Titanic“-Wracks über den Bildschirm flimmerten.
Person Von Alexander Kohlmann
Vita Alexander Kohlmann, geboren 1978, er­ar­bei­tete als Theaterdramaturg eine Adaption des Spielfilmklassikers „Spiel mir das Lied vom Tod“ als Kreuzung von Science-Fiction und Western. Unendliche Weiten auf dem Meeresgrund hat er zuerst als Kind Mitte der 1980er-Jahre in der „Tagesschau“ ­gesehen, als die ers­ten Fotos des „Titanic“-Wracks über den Bildschirm flimmerten.
Person Von Alexander Kohlmann