Die blaue Plage

An der Adriaküste ist die Population der invasiven Blaukrabbe explodiert. Heimische Muschelfischer bangen um ihre Existenz und suchen nach einem Weg zwischen Ökologie und Ökonomie

In die Geräuschkulisse des Fischmarkts von Goro mischt sich der Lärm von hin und her bewegten blauen Plastikbehältern. In ihnen befinden sich die Fänge des Morgens. Das helle Aprillicht dringt in die Halle und beleuchtet die Behälter, in denen die Schatten sich langsam bewegender Gliedmaßen zu sehen sind. 

Kaum jemand spricht, denn es ist Auktionszeit. Von einer metallenen Tribüne aus beobachten Käufer die auf einer Walze vorbeiziehenden Lose – so nennt man die Chargen von Fisch – und bieten still und anonym, indem sie einfach einen Knopf drücken. In dieser Halle kommt der gesamte (legale) Fang der Sacca di Goro, einer der Lagunen des Podeltas, unter den Hammer.
Das Delta des Po an Italiens Adriaküste, 2700 Hektar Meer, kaum mehr als einen Meter tief, ist ein besonderes Ökosystem. Hier kann man erkennen, was der Fluss in den vergangenen Jahrtausenden an Arbeit geleistet hat: Er hat Sediment aus dem Landesinneren hierher transportiert und die Sandbänke entstehen lassen, die so wichtig sind für den Schutz der Lagunen. An diesem Ort, an dem Süß- und Salzwasser zusammenkommen, herrschen optimale Bedingungen für zahlreiche Fischarten und Schalentiere, der ideale Arbeitsplatz für Fischer. Und es gibt hier eine Besonderheit: Am Delta dominieren seit Jahrzehnten Frauen die Muschelfischerei (mare No. 158). Sie sind die stillen Heldinnen einer Region, die nicht viel anderes zu bieten hat als die Fischerei.

Seit einiger Zeit sieht man auf den Marktauktionen jedoch kaum noch Muscheln, Barsche, Brassen, Meeräschen und Aale, sondern vielmehr Krebstiere, deren Beine und Scheren eine intensive blaue Farbe tragen. Etwas weiter nördlich, auf dem Fischmarkt von Scardovari, ist das gleiche Bild zu sehen.

Es handelt sich um die Blaukrabbe, Callinectes sapidus, einen Eindringling. Auf dem Fischmarkt von Goro wurden im Jahr 2023 rund 200 000 Kilogramm Blaue Krabben zum Verkauf angeboten. Einige Jahre zuvor, 2017, waren es nur sieben. Wie kann das sein?

Eigentlich ist die Blaukrabbe im nordwestlichen Atlantik beheimatet. Doch Ende der 2000er-Jahre entdeckte sie das Podelta für sich. In den vergangenen fünf Jahren hat sie sich dort rasch ausgebreitet, mit verheerenden Folgen für die einheimischen Fischer. 

Zum ersten Mal dokumentiert wurde die Blaukrabbe am 4. Oktober 1949 im Golf von Triest. In der Literatur ist von Sichtungen bereits in früheren Jahren die Rede, insbesondere in Griechenland. Wie viele andere gebietsfremde Arten auch wurde die Blaukrabbe höchstwahrscheinlich über das Ballastwasser großer Handelsschiffe eingeschleppt. Einmal in der Fremde angekommen, bringen die Invasoren nicht selten das örtliche Ökosystem durcheinander, verdrängen einheimische Arten und zerstören Nahrungsnetze. 

Das hat man hier im Delta, insbesondere in Goro, auf die harte Tour erfahren müssen. Im Sommer 2023 zwang die Blaukrabbe die lokale Fischereiwirtschaft in die Knie.

Das erste Mal begegneten wir Edoardo Turolla, einem Muschelbiologen, im Oktober 2022, in seinem Labor am Delta Institute of Applied Ecology in Goro. Seitdem hat sich viel verändert. Damals erklärte er, dass er keine besonderen Probleme mit der Prädation der Muscheln sieht. Nun sei die Blaukrabbe da und somit auch der Raubdruck auf andere Arten. Laut Turolla hat ihre Größe, ihre Aggressivität, ihre hohe Reproduktionsrate und das nahezu völlige Fehlen natürlicher Fressfeinde die Krabbe hier mächtig werden lassen. 

Das Klima tat sein Übriges. Die letzten milden Winter und die Überschwemmungen im Frühjahr 2023 führten dazu, dass sich so gut wie alle Exemplare in den Lagunen an der Küste konzentrierten. Zunächst beschädigten die Krabben die Netze und den Fang, und schließlich wurden die Venusmuscheln direkt angegriffen. Die Fischer, die in der Blaukrabbe zunächst eine Geschäftsmöglichkeit sahen, um ihr Einkommen zu steigern, kämpfen plötzlich um ihre Existenz. 

Auf dem Weg ins Zentrum von Goro, der durch den malerischen, Unesco-geschützten Wald der Mesola-Ebene führt, stößt man auf einen Kreisverkehr, in dessen Mitte die Skulptur einer Venusmuschel steht, das Symbol eines kleinen Wirtschaftswunders. Der wirtschaftliche Aufschwung kam Mitte der 1980er-Jahre, zusammen mit – ironischerweise – einer anderen fremden Art: der Manila-Teppichmuschel (Ruditapes filippinarum). Das nährstoffreiche Wasser der Lagune erwies sich als idealer Ort für die Zucht der Muscheln, und innerhalb weniger Jahre entwickelte sich ein florierender Produktionssektor. Während sich die Artenvielfalt in dem Gebiet allmählich stabilisierte, wuchs die lokale Wirtschaft rasant. 


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 168. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 168

mare No. 168Februar / März 2025

Von Francesco Martinelli und Elisabetta Zavoli

Als Francesco Martinelli, Jahrgang 1987, Wissenschaftsautor in Bologna in Mittelitalien, im Februar 2022 begann, sich mit der Blaukrabbe zu beschäftigen, ahnte noch niemand etwas von der Gefahr durch die Invasoren.

Die italienische Fotografin Elisabetta Zavoli, Jahrgang 1976, ist nicht weit von Goro entfernt aufgewachsen. Umso mehr bewegt sie dieses Thema.

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Vita

Als Francesco Martinelli, Jahrgang 1987, Wissenschaftsautor in Bologna in Mittelitalien, im Februar 2022 begann, sich mit der Blaukrabbe zu beschäftigen, ahnte noch niemand etwas von der Gefahr durch die Invasoren.

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