Die Anziehungskraft des schwer Erreichbaren

Heide und Erich Wilts segeln seit dreieinhalb Jahrzehnten um die Welt, von einem Ort zum anderen. Ihre Fahrten führten sie zu weit mehr als 200 der entlegensten Inseln. Rekordsucht ist nicht ihr Antrieb­, vielmehr eine Sehnsucht nach unberührter Natur

Vielleicht hängt alles mit dem Beginn ihrer Beziehung zusammen, der in einem Roman von Nicholas Sparks stehen könnte: Er, gutaussehender Geschäftsmann, liebt das Meer und die Küstenlandschaft; am Wochenende segelt er mit seiner Jolle vom Festland hinüber zur Insel und baut an deren entlegener Ostspitze sein Zelt auf. Sie arbeitet auf der Insel als Ärztin, träumt in der Nacht, dass ihr am nächsten Tag ihr zukünftiger Mann begegnen wird, ein Mann mit einem Boot; am Sonntag wandert sie im Bikini den Strand entlang und sammelt Muscheln; weiter und weiter entfernt sie sich vom Ort, läuft in die Einsamkeit – und begegnet dort ihm. Sie gefällt ihm, er gefällt ihr. „Haben Sie vielleicht Lust, ein Stück mit mir zu segeln?“, fragt er höflich. Sie denkt: „Er hat ein Boot!“ Es folgt ein kurzer Törn auf der Nordsee, bei dem alles schiefgeht, was schiefgehen kann. Er, verlegen und nicht ganz bei der Sache, fährt eine Patenthalse, sodass ihr der Baum gegen den Kopf schlägt, dann läuft das Boot auf Grund, er reißt intuitiv das Schwert hoch, ohne zu beachten, dass sie rittlings auf dem Schwertkasten sitzt; sie ist, als er sie endlich am Strand absetzt, blessiert und heilfroh, wieder an Land zu sein. Er hat inzwischen die Tide für die Heimfahrt verpasst, sein Boot fällt auf halber Strecke trocken, und es wird eine lange, unbequeme Nacht im Watt.

Es war der letzte schöne Sonntag im August 1969 und der erste Tag einer wunderbaren Partnerschaft. Er hieß Erich, stammte aus Lübeck und war 27, sie war ebenso alt, kam aus Stuttgart und hieß Heide, und seit ihrer Heirat heißen beide mit Familiennamen Wilts. Die Insel, auf der sie sich trafen, heißt Norderney. Sie war ihre erste gemeinsame Entdeckung. Seitdem sind weit mehr als 200 Inseln dazugekommen, von Jan Mayen in der Grönlandsee bis Deception Island in der Antarktis, von Scott Island im Rossmeer bis Midway im Archipel von Hawaii.

Seit 1976 segeln die Wilts mit ihren Schiffen „Freydis“, „Freydis II“ und „Freydis III“ über die Weltmeere, sie schreibt, er fotografiert. Die Eilande, die sie locken, sind nicht die, auf denen golfende Pensionäre ihren Altersruhesitz haben, sondern Archipele wie die Falklands oder die Antipoden – weit weg und wild.

Auch jetzt wollten sie eigentlich nicht in dem kleinen Haus in Heidelberg sein, wo das Gespräch mit ihnen stattfindet, sondern unterwegs. Mitte Mai 2011 sollte es losgehen; ihr Schiff wartete in Japan, eingewintert in einer Marina an der Ostküste, 100 Meilen nördlich von Tokio. Dann bebte am 11. März 2011 in Japan die Erde, und der Tsunami brach über die Marina herein. Die „Freydis“ wurde losgerissen, aufs offene Meer gesaugt und vier Meilen weiter auf die Klippen der Steilküste geworfen, 40 Kilometer entfernt von den geborstenen Reaktoren in Fukushima. Der Flug nach Japan und der Augenschein vor Ort ergaben: Das Schiff ist unrettbar verloren. Doch die Schockstarre der Eigner dauerte nicht lange. Keine drei Monate später kauften sie einen Schiffsrumpf aus Aluminium, den sie mit einer Werft zur „Freydis III“ ausbauten. Ende des Jahres geht es mit ihr in die Karibik. Die Wilts sind jetzt 70.

Was treibt sie? „Schwer zu fassen“, sagt Heide Wilts und überlegt. Dann: „Neugier, Wissensdurst, Abenteuerlust. Wir wollen Neues, Unbekanntes erleben, unsere Grenzen ausloten, unser Ich erfahren; es ist nur ein unbestimmtes Gefühl, das vielleicht sogar genetisch beeinflusst ist und das einen hinaustreibt in die Welt, in extreme Gebiete, zu fremden Gestaden. Es ist dasselbe, was Alpinisten auf Gipfel treibt. Aber schließlich sind viele Inseln ja nichts anderes als die Gipfel unterseeischer Berge.“

Es gibt, schreibt Judith Schalansky im einleitenden Essay zu ihrem „Atlas der abgelegenen Inseln“, eine „Faszination abgeschiedener Orte“, eine magische Anziehungskraft des schwer Erreichbaren. Ihr sind Heide und Erich Wilts seit 36 Jahren erlegen. „Eine Insel ist eine Herausforderung“, sagen sie, „je unerreichbarer die Insel, desto größer die Herausforderung.“

Selten ist die Insel eine Geliebte, die den Seefahrer nach harter Überfahrt mit offenen Armen willkommen heißt. Oft gibt es keinen Hafen, keine geschützte Ankerbucht, keinen Zugang, nur schroffe Felsen oder tückische Korallenriffe. Wem es aber gelingt, das alles zu überwinden, erlebt ein unerhörtes Glücksgefühl. „Man ist stolz, wenn man es geschafft hat“, sagt Heide Wilts. Glücklich „wie Schneewittchen hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen“ fühlte sie sich inmitten von Pinguinen auf Macquarie, einem abweisenden Stück an die Meeresoberfläche gepresster Erdkruste zwischen Australien und der Antarktis; und auf den Bounty-Inseln südöstlich von Neuseeland – „nirgends ein Baum, ein Strauch, ein Grashalm; ohne zu zögern würde man diese Eilande als den unwirtlichsten Ort auf Erden erklären“ – wird sie angesichts der vielen Seevögel und Robben „geradezu in Euphorie versetzt“.

Es ist der Traum jedes Jungen, dessen Finger über den Globus oder die Karten des Atlasses wandert und auf den schwarzen Krümeln in der blauen Weite der Ozeane verharrt. Wie mag es dort aussehen? Wer könnte dort wohnen? Welchen Tieren würde man begegnen? Und welches Leben würde man führen? Für die meisten bleibt es dann bei den Fingerreisen auf Globus oder Weltkarte. Judith Schalansky hat ihrem Atlas den Untertitel gegeben „Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde“. Sie vertritt die Mehrheit. Aber für eine kleine Minderheit ist Fernweh ein ernsthaftes Leiden; sie muss tatsächlich los, den Ozean unter den Kiel nehmen und gucken, was es mit den schwarzen Krümeln in der blauen Weite auf sich hat. Dazu gehören die Wilts. Jeder neue Krümel löst Hoffnung aus, die Hoffnung, auf ein anderes Leben und eine verlorene Natur zu stoßen, ursprünglich, unverdorben, unverfälscht. „Wenn etwas völlig entlegen ist, kann dort noch nicht alles kaputt sein“, sagt Erich Wilts.

Diese Hoffnung lockte sie immer wieder in Bereiche, wo die Seekarte wegen fehlender Vermessungsdaten nur noch gestrichelt ist. 1981 segelten sie – noch ohne GPS und Radar – in die Antarktis; 1991 wollen sie dort sogar auf der unbewohnten Insel Deception, einem kollabierten Vulkankrater, überwintern. Bei einer Fahrt auf dem Kratersee werden sie von einem urplötzlich hereinbrechenden Orkan überrascht, sie erreichen ihren Ankerplatz nicht mehr, das Schiff wird vom Sturm aufs Land gedrückt und leckgeschlagen, knapp können sie sich retten. Am nächsten Morgen liegt die „Freydis“ hoch und trocken an Land und hat sich in eine bizarre Eisskulptur verwandelt.


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mare No. 93

No. 93August / September 2012

Von Peter Sandmeyer und Erich Wilts

Der Hamburger Autor Peter Sandmeyer, Jahrgang 1944, lernte die Wilts vor 21 Jahren in einem langen Funkgespräch kennen. Sie wollten 1991 in einer südpolaren Bucht überwintern, doch ihr Schiff wurde in einem Orkan an Land geworfen und verwandelte sich in eine Eisskulptur. Ihm gelang es, eine Verbindung zu den beiden herzustellen. Den Titel seines Stern- Berichts Gestrandet in der weißen Hölle übernahm Heide Wilts später für ihr Buch über das Abenteuer. Judith Schalanskys Buch, das sich literarisch und bildlich erträumt, was Heide und Erich Wilts in Jahrzehnten in der Realität erfahren haben, ist 2009 im mare-verlag erschienen. Ihr mit etlichen Preisen ausgezeichneter bibliophiler Atlas ist als Medizin gegen Fernweh inzwischen bestens bewährt.

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Vita Der Hamburger Autor Peter Sandmeyer, Jahrgang 1944, lernte die Wilts vor 21 Jahren in einem langen Funkgespräch kennen. Sie wollten 1991 in einer südpolaren Bucht überwintern, doch ihr Schiff wurde in einem Orkan an Land geworfen und verwandelte sich in eine Eisskulptur. Ihm gelang es, eine Verbindung zu den beiden herzustellen. Den Titel seines Stern- Berichts Gestrandet in der weißen Hölle übernahm Heide Wilts später für ihr Buch über das Abenteuer. Judith Schalanskys Buch, das sich literarisch und bildlich erträumt, was Heide und Erich Wilts in Jahrzehnten in der Realität erfahren haben, ist 2009 im mare-verlag erschienen. Ihr mit etlichen Preisen ausgezeichneter bibliophiler Atlas ist als Medizin gegen Fernweh inzwischen bestens bewährt.
Person Von Peter Sandmeyer und Erich Wilts
Vita Der Hamburger Autor Peter Sandmeyer, Jahrgang 1944, lernte die Wilts vor 21 Jahren in einem langen Funkgespräch kennen. Sie wollten 1991 in einer südpolaren Bucht überwintern, doch ihr Schiff wurde in einem Orkan an Land geworfen und verwandelte sich in eine Eisskulptur. Ihm gelang es, eine Verbindung zu den beiden herzustellen. Den Titel seines Stern- Berichts Gestrandet in der weißen Hölle übernahm Heide Wilts später für ihr Buch über das Abenteuer. Judith Schalanskys Buch, das sich literarisch und bildlich erträumt, was Heide und Erich Wilts in Jahrzehnten in der Realität erfahren haben, ist 2009 im mare-verlag erschienen. Ihr mit etlichen Preisen ausgezeichneter bibliophiler Atlas ist als Medizin gegen Fernweh inzwischen bestens bewährt.
Person Von Peter Sandmeyer und Erich Wilts