Der Tod spielt immer mit

Vor 80 Jahren tobte im Westpazifik die Schlacht um Guadalcanal, die Hauptinsel des Salomonenarchipels, zwischen Japan und den USA. Deren Hinterlassenschaft, zahllose Blindgänger, kostet noch heute viele Menschen­leben

Die Spendenveranstaltung der Adventistenkirche von Honi­ara fand auf einem Hügel statt, gerade 400 Meter Luftlinie vom Parlament der Salomonen entfernt. „Der Tag war unerträglich heiß, deswegen haben wir beschlossen, die Feuerstelle unter dem Mangobaum zu errichten, um etwas Schatten zu finden“, erzählt Maeverlyn Pitanoe, die an der Zubereitung der tra­ditionellen Erdofenspeisen für die Gäste beteiligt war. Ihr gingen zwei junge ­Männer zu Hand – Raziv, der Neffe der Grundstücksbesitzerin, und dessen Freund Charles. Es war kurz vor zehn Uhr, als das Unglück passierte. 

An den Knall der Explosion kann sie sich nicht erinnern. Sie wurde mehrere Meter den Hang hinaufgeschleudert, verlor das Bewusstsein aber nicht. „Ich sah, wie Charles und Raziv den Hang herunterrollten“, erinnert sich Pitanoe. „Und ich sah, wie mein Bein blutet und die Haut von meinem Arm herunterhängt.“ Die Frau wurde von anderen Gästen ins Auto gepackt und sofort ins Krankenhaus gebracht. Trotz des hohen Blutverlusts und der tiefen Wunden überlebte sie den Unfall. Nach 53 Tagen konnte sie das Krankenhaus verlassen. Die beiden Männer starben, Raziv an Ort und Stelle, Charles kurz darauf im Krankenhaus. „Wir haben 20 Jahre in dem Haus gewohnt und das Essen im Garten vor­bereitet“, sagt Rusilla Posala, Ra­zivs Tante. „Niemand hat vermutet, dass da im Boden noch alte Blindgänger stecken.“

Die Hitze des Erdofens hatte einen 105-Millimeter-Blindgänger des Zweiten Weltkriegs zur Explosion gebracht. Auf den Salomonen passiert das regelmäßig. Dutzende Menschen werden jedes Jahr Opfer von Flugzeugbomben, Artilleriegeschossen, Granaten und Patronen, die seit mehr als 80 Jahren in der Erde liegen.

Um diese Inseln am Ende der Welt tobten damals, im Jahr 1942, die schwersten Schlachten des Pazifikkriegs. Sechs Monate brauchten die US-Soldaten, um die Hauptinsel Guadalcanal im Westpazifik von den Japanern zurückzuerobern, fast 7000 US-Marines und mehr als 20 000 japanische Soldaten starben bei den Kämpfen. Weitere sechs Monate dauerten sie auf New Georgia, Choiseul und Bougainville im Nordwesten des Archipels. In dieser Zeit wurden von beiden Kriegsgegnern Hunderttausende Bomben abgeworfen und Millionen Patronen ab­gefeuert – davon sind möglicherweise 20 bis 30 Prozent nicht explodiert.

Als sich die US-Streitkräfte kurz nach dem Krieg von den Salomonen zurückzogen, ließen sie die Blindgänger, fachsprachlich Un­exploded Ordinance (UXO) genannt, im Boden. Zerstörte Panzer, Flugzeuge und Artilleriegeschütze rosten bis heute an malerischen Stränden vor sich hin, versenkte Schiffe liegen vor der Küste am Meeresboden. Bis zur Unabhängigkeit der Salomonen von Großbritannien 1978 sprach niemand über das tödliche Erbe. Japaner wie Amerikaner bargen zwar die Überreste ihrer gefallenen Soldaten, um sie würdig in der Heimat zu bestatten, und bauten in Honiara teure Kriegsdenkmäler, um die Gefallenen zu ehren. Doch niemand übernahm Verantwortung für die Blindgänger, die durch Regen und Erosion regelmäßig an die Erdoberfläche geraten. Kinder, die im Urwald spielen, werden immer wieder schwer verletzt, auch bei Bauarbeiten kommt es zu Explosionen.

Der Unfall hat das Leben der 51-Jährigen Pitanoe verändert. Ihre Beine und Arme sind von tiefen Narben durchzogen, die immer noch schmerzen. „Früher bin ich jeden Tag zu Fuß zur Arbeit an die Uni gelaufen und hatte abends immer noch genug Energie, um selbst gebackenen Kuchen auf dem Markt zu verkaufen“, sagt die Schulinspekteurin. „Heute bin ich immer müde, kann schlecht schlafen, habe Hitzewallungen und Panikattacken.“ Ihre Familie ist besorgt; jedes Mal, wenn sie das Haus verlässt, wird sie von einem ihrer Söhne oder Neffen begleitet.

Der Staat, der aus gut 900 Inseln besteht und heute rund 700 000 Einwohner zählt, war weder technisch noch finanziell in der Lage, das tödliche Erbe des Zweiten Weltkriegs zu beseitigen. Bis heute hängen die Salomonen am Tropf internationaler Hilfe. „Die USA und Japan müssten ihre Leute schicken und die Räumung finanzieren. Sie sind doch verantwortlich dafür, was hier passiert ist“, sagt Pitanoe. In Laos oder Kambodscha habe die Welt die Minen längst geräumt, obwohl der Krieg dort viel später zu Ende ging. „Für die Salomonen gibt es nicht einmal einen Fonds, um die Opfer zu entschädigen.“ Nach ihrem Unfall erhielt sie auch vom Staat keine Unterstützung. Medikamente musste sie selbst bezahlen.



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mare No. 164

mare No. 164Juni / Juli 2024

Von Andrzej Rybak und Jonas Kakó

Bei einem Spaziergang vor Ort entdeckte Andrzej Rybak, Jahrgang 1958, Reporter in Hamburg, sechs alte US-Granaten. „Die Salomonen sind ein Tropenparadies, aber man muss aufpassen, wohin man tritt.“

Jonas Kakó, geboren 1992, Fotograf in Hannover, ­gewann 2023 einen World Press Photo Award.

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Vita

Bei einem Spaziergang vor Ort entdeckte Andrzej Rybak, Jahrgang 1958, Reporter in Hamburg, sechs alte US-Granaten. „Die Salomonen sind ein Tropenparadies, aber man muss aufpassen, wohin man tritt.“

Jonas Kakó, geboren 1992, Fotograf in Hannover, ­gewann 2023 einen World Press Photo Award.

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