Der Schutzengel der Matrosen

Um die Wende zum 20. Jahrhundert schuf der vermögende Wohltäter Jacques de Thézac ein Netz von Schutzhäusern für Seeleute in der Bretagne und kämpfte gegen grassierende Armut, Hoffnungslosigkeit und Alhoholsucht unter den Fischern

Was geschah vor hundert Jahren auf einem bretonischen Fischerboot bei schwerem Wetter? Der Küstensegler suchte Schutz im nächstgelegenen Hafen; die Matrosen flüchteten sich in die Kneipen am Kai. Versoffen ihre Heuer, prügelten sich mit den einheimischen Seeleuten. Schwankten schließlich mit leeren Taschen und gebrochener Nase zurück an Bord der Schaluppen und Slups, um ihren Rausch auszuschlafen, nur durch eine Plane vor dem Regen geschützt. Die Ortsansässigen taperten in ihren Holzschuhen heim in die von zu vielen hungrigen Kindern überfüllte Fischerhütte und mussten ihren verzweifelten Frauen erklären, wo das Geld für die nächste Woche geblieben war …

Ein hochmögender Franzose wollte dieses Elend nicht länger mit ansehen. ­Jacques de Thézac (1862–1936) war von Beruf Erbe, aber der Müßiggang schmeck­te ihm nicht. Stattdessen suchte und fand der leidenschaftliche Segler, Katholik, Hobbyethnologe, Fotograf und Philanthrop seine Berufung: Er wurde zum Schutzengel der Matrosen. 

Es gibt zu Anfang des 20.  Jahrhunderts noch nicht viele Automobile zu bestaunen im Finistère, dem „Ende der Welt“, wie der westlichste Zipfel Frank­reichs heißt. Aber was da um die Ecke kommt, hat noch keiner gesehen: Ist es ein Schiff oder ein Auto? Es ist beides. Auf dem Fahrgestell eines De Dion-Bouton ist ein Bootsrumpf montiert. Darin sitzt Jacques de Thézac. Das Verdeck ist heruntergeklappt, um Platz zu machen für die Plattenkamera und einen mächtigen Ballen Eukalyptusblätter. Thézac ist, wie fast jeden Tag, auf Inspektionstour durch sein Lebenswerk. Das auto-canot hält landauf, landab direkt am Kai der Hafenstädtchen. Stets vor einem rosa­roten Giebelhaus mit großem Spitzbogenfenster. Darüber steht in Stuck­buchstaben 

„Abri du marin“, Seemanns Zuflucht. 
Die zwölf Häuser von Roscoff im Norden bis zur Belle-Île im Süden gleichen sich wie ein Ei dem anderen und fallen von weither auf. Besonders, wenn man vom Meer kommt. Thézac hat sie nach minutiösen Vorgaben von dem provenzalischen Architekten René Darde bauen lassen. Auch innen haben die Abris das gleiche Schnittmuster: An der Loge des Herbergsvaters vorbei betritt man den lichten, großen Aufenthaltsraum. Betrunkene, Frauen und Pfarrer müssen allerdings draußen bleiben. Der Seemann soll weder auf dumme Gedanken kommen noch von moralinsauren Predigten vertrieben werden. 

Auch Thézac will missionieren, aber behutsam. Es soll Spaß machen, hierherzukommen. Hier gibt es Domino, Spielkarten, Brettspiele und Mineralwasser umsonst, ein Akkordeon und später auch einen Phonographen. Die Wände und sogar die Balkendecke sind dicht behängt mit Sinnsprüchen, Marinebildern und Fotos, aufgelockert durch lustige Karikaturen und einen Zerrspiegel. Zum Hof hinaus, überdacht, ein frühes Fitnessstudio mit Klettertau, Hanteln, Turngeräten. Und ein Platz zum Netzeflicken und Segelreparieren mit allem nötigen Werkzeug. Im ersten Stock das Studierzimmer mit Seekarten und einer Bibliothek, deren Bücher Monsieur und Madame de Thézac persönlich auswählen. Daneben ein Schlafsaal für durchreisende Matrosen. 

Auch der Herbergsvater mit seiner Familie wohnt im Haus. Dieser gardien ist sorgfältig ausgesucht; bevorzugt wird ein erfahrener Fischerpatron mit lupenreiner Weste und freundlichem Wesen. Er ist zugleich gute Seele und Ordnungsmacht im Abri. Er kocht kräftige Suppen und schreitet ein, wenn jemand politische Reden schwingt; der Abri soll nicht nur ein Schutzort vor schlechtem Wetter sein, sondern auch vor Staat und Kirche. 

Er erteilt Ratschläge, verbindet kleine Wunden – die Salbe stellt Madame de Thézac eigenhändig her. Und dazu serviert er Eukalyptustee. Noch so eine Idee von Thézac, um die Seemänner nüchtern bei Laune zu halten, ein Freund mit Eukalyptusplantagen im Maghreb hatte ihm davon erzählt. Der gardien von Concarneau protestiert schriftlich bei Thézac, als er vom Eukalyptusprojekt hört. „Hier in der Gegend kostet die Flasche Apfelwein 2 Sous. Es ist, als wollte man jemanden, der Hummer im Überfluss hat, mit einem Hering bekehren.“ Thézac bleibt unbeirrt und ordert fürs Erste 500 Kilogramm Zucker und zentnerweise Eukalyptus. 2000 Tassen Eukalyptustee werden allein im Abri von Concarneau in der ersten Woche getrunken, in der Woche darauf schon das Doppelte. Das weiß Thézac genau, weil jeder Herbergsvater akribisch Buch führen muss über Besucherzahlen, besondere Vorkommnisse, ausgegebene Getränke und verabreichte Medikamente. Für jede Woche wird ein Formular ausgefüllt, das Thézac oder sein „homme de confiance“ Pierre Quéméré einsieht. 

Quéméré stammt aus dem Volk und dient dem Rentier erst als Bootsmann und Chauffeur, bald auch als Helfer in der Dunkelkammer und Freund. Außerdem wird er gebraucht als Übersetzer, denn der Großbürger Thézac ist kein Bretone. Am Anfang seines humanitären Kreuzzugs versteht er die Sprache derer, die er glücklich machen will, nur mangelhaft. 

Jacques de Thézac wird 1862 in Orléans geboren. Der kränkelnde Junge ist das einzige Kind alter Eltern. Deshalb beschließt das gut situierte Paar aus dem Landadel den Umzug in die Kleinstadt Saintes, ins milde Klima der Charente. Für den Schulbesuch erscheint ihnen der schmächtige, kurzsichtige Knabe ungeeignet, drum wird ein Präzeptor ­angestellt. Dieser Hauslehrer legt den Grundstein zu Thézacs enzyklopädischer Bildung. Er trichtert ihm nicht nur Latein und Bibelverse ein, sondern begeistert ihn auch für Naturwissenschaften und Sport. Mit 16 Jahren bekommt der junge Jacques seine erste Jolle; bald kennt er das Segelrevier zwischen La Rochelle und Bordeaux wie seine Westentasche und ­gewinnt eine Regatta nach der anderen. Mit 18 Jahren kauft er ein zweites Gentlemanspielzeug: eine Glasplattenkamera. 


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mare No. 168

mare No. 168Februar / März 2025

Von Paula Almqvist und Jacques de Thézac

Paula Almqvist lebt als freie Autorin halb in Hamburg und halb in der Normandie. Sie hat zwar keinen Segelschein, ist aber nirgends glücklicher als am Meer. Man muss ja auch nicht singen können, um Opern zu lieben.

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Vita Paula Almqvist lebt als freie Autorin halb in Hamburg und halb in der Normandie. Sie hat zwar keinen Segelschein, ist aber nirgends glücklicher als am Meer. Man muss ja auch nicht singen können, um Opern zu lieben.
Person Von Paula Almqvist und Jacques de Thézac
Vita Paula Almqvist lebt als freie Autorin halb in Hamburg und halb in der Normandie. Sie hat zwar keinen Segelschein, ist aber nirgends glücklicher als am Meer. Man muss ja auch nicht singen können, um Opern zu lieben.
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