Der Pfuhl von Rio

Brasiliens Metropole Rio de Janeiro leitet den Großteil ihrer Ab­wässer ungeklärt ins Meer. Die Folge: Die malerische Guanabarabucht ist völlig verschmutzt und voller gefährlicher Krankheits­keime. Die Behörden stehen ratlos vor einer Umwelttragödie

Der Fluss steht an diesem Junimorgen still, eine braune, stinkende Brühe. Alle paar Meter hängt eine Plastiktüte unter der Wasseroberfläche wie ein müder Geist, nur kurz aufgescheucht von den Wellen, die Titos Krabbenfischerboot hinterlässt, wenn es mit leierndem Motor vorbeigleitet. Tito, ein kräftiger Mann mit schwarzem T-Shirt, schwarzen Shorts und schwarzer Haut, der eigentlich Valdeilton Silva dos Santos heißt, ist auf dem Weg hinaus in die Bucht.

Er steuert sein Boot den breiten Rio Meriti hinunter. Links ragt ein Baumstamm aus dem Wasser, schwarz und gekrümmt wie eine tote Gliedmaße. Rechts am Ufer erstrecken sich die Baracken der Favela, in der er lebt. Am Ufer pickt ein blütenweißer Storch in buntem Plastik herum. Im flachen Wasser rostet, halb versunken, ein Auto. Hier und da wächst aus dem Müll ein Mangrovenbaum wie ein letztes Aufbäumen der Natur. Dann öffnet sich der Fluss, die Ufer bleiben zurück, und Titos Boot stößt hinaus in die Weite der Bucht, hinein in dieses brasilianische Inferno namens Guanabara.

Die Fischer der Guanabarabucht haben ein Gedicht: 
Im Wasser bin ich geboren.
Im Wasser bin ich aufgewachsen.
Um im Wasser zu leben,
muss ich bereit sein, 
im Wasser zu sterben.

Es mag eine romantische Idee vom Tod gewesen sein, die den Dichter einst zu diesem Vers inspirierte. Heute hat er hier eine sehr wörtliche Bedeutung. Im Wasser sterben die Fische. Am Ufer sterben die Bäume. In den Favelas sterben die Menschen. Die Guanabarabucht ist eines der schmutzigsten Gewässer der Welt – und eines der tödlichsten.

20 Kilometer südlich von Titos Boot, am Eingang der Bucht, wo es hinausgeht in den Atlantik, steht rechts, berühmt und besungen, ein Berg. Auf seinem Gipfel, in 396 Meter Höhe, steigen jeden Tag Tausende Touristen aus der Seilbahn und strömen wie Zombies zum Geländer der Aussichtsplattform. Von dort staunen sie über die vielleicht schönste Stadtsilhouette der Welt: Rio de Janeiro.

Von hier oben, vom Pão de Açúcar, dem Zuckerhut, sehen sie unter sich die Wellen weiß an die Strände rollen. Drüben auf dem Berg Corcovado sehen sie den Christus mit ausgebreiteten Armen über die Stadt wachen. Bis an den Horizont sehen sie grüne, dschungelbewachsene Hügel, dazwischen Millionen Häuser, alles gruppiert um die majestätische Bucht von Guanabara, deren Wasser von hier so einladend in der Sonne glitzert wie ein Swimmingpool an einem heißen Sommertag.

Blickt ein Tourist auf dem Zuckerhut nach Norden, sieht er hinter den Hochhäusern den Hafen und dahinter ein dicht bebautes Stadtviertel, das von hier oben wirkt wie sprudelnde Urbanität. Was er nicht sieht, ist, dass es dort dem 39-jährigen Fischer Reinaldo jeden Tag ein bisschen schwerer fällt, den Verlockungen der Drogenhändler zu widerstehen.

Blickt der Tourist noch weiter in die Ferne, sieht er auf einer Insel in der Bucht den Flughafen, wo im Minutentakt Touristen aus allen Weltwinkeln aus den Maschinen steigen. Was er nicht sieht, ist, dass unweit der Landebahn, am Ufer, der Biologe Mario Moscatelli versucht, in totem Wasser Mangrovenbäume zu pflanzen, um das Ökosystem wiederzubeleben.

Weiter rechts sieht der Tourist Hunderte Schiffe vor Anker liegen. Was er nicht sieht, ist, dass diese Schiffe manchmal mit ihren schweren Ankern die Ölpipelines auf dem Grund der Bucht zerstören.

An diesem Morgen könnte der Tourist durch ein Fernglas sogar Titos Boot erkennen, die „Siri com câimbra“, den „Krebs mit Muskelkater“. Vielleicht würde er denken: Ach, ein hölzernes Fischerboot, wie schön wäre es, mit ihm hinauszufahren. Wahrscheinlich hätte er dabei den salzigen Geruch des Meeres in der Nase, den der Wind hinaufweht auf den Zuckerhut.

Wer aber an diesem Morgen mit Tito hinaus in die Bucht fährt, der spürt diesen Wind nicht, der riecht kein Salz, nur Scheiße, der kämpft gegen das Würgen.

Der Gestank ist hier, wo sich der Meriti in die Bucht entleert, bestialisch. Mehr als 50 Flüsse sammeln in den umliegenden Hügeln das Abwasser von zehn Millionen Menschen und Tausenden Industriebetrieben. Nur ein Drittel des Wassers wird von Kläranlagen gesäubert. Der Rest erreicht die Bucht unbehandelt. Die Mündungen der Flüsse sind riesige Kloaken.

Tito steuert sein Boot Richtung Flughafeninsel Ilha do Governador, vorbei an einem Sofa, das schaukelnd im Wasser treibt. Durch Hunderte tote Sardinen, vermutlich erstickt im sauerstofflosen Wasser. Neulich fand er hier ein Spielzeugeichhörnchen aus Gummi. Er montierte es oben auf die Kabine des Bootes, es ist jetzt sein Maskottchen.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 130. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 130

Oktober / November 2018

Von Bastian Berbner und Dario de Dominicis

Bastian Berbner, Jahrgang 1985, lebt als Journalist in Hamburg. Am letzten Tag seiner Recherche in Rio de Janeiro schied Deutschland aus der Fußball-Weltmeisterschaft in Russland aus. Von vielen Brasilianern bekam er daraufhin verständnisvolle Blicke, die sagten: Wir wissen, wie sich das anfühlt.

Der italienische Fotograf Dario De Dominicis, geboren 1965, seit fast zehn Jahren wohnhaft in Rio de Janeiro, dokumentiert seit 2014 die zunehmende Verschmutzung der Guanabarabucht. Sein Fokus liegt dabei auf den Lebens- und Arbeitsbedingungen der örtlichen Fischer.

Mehr Informationen
Vita Bastian Berbner, Jahrgang 1985, lebt als Journalist in Hamburg. Am letzten Tag seiner Recherche in Rio de Janeiro schied Deutschland aus der Fußball-Weltmeisterschaft in Russland aus. Von vielen Brasilianern bekam er daraufhin verständnisvolle Blicke, die sagten: Wir wissen, wie sich das anfühlt.

Der italienische Fotograf Dario De Dominicis, geboren 1965, seit fast zehn Jahren wohnhaft in Rio de Janeiro, dokumentiert seit 2014 die zunehmende Verschmutzung der Guanabarabucht. Sein Fokus liegt dabei auf den Lebens- und Arbeitsbedingungen der örtlichen Fischer.
Person Von Bastian Berbner und Dario de Dominicis
Vita Bastian Berbner, Jahrgang 1985, lebt als Journalist in Hamburg. Am letzten Tag seiner Recherche in Rio de Janeiro schied Deutschland aus der Fußball-Weltmeisterschaft in Russland aus. Von vielen Brasilianern bekam er daraufhin verständnisvolle Blicke, die sagten: Wir wissen, wie sich das anfühlt.

Der italienische Fotograf Dario De Dominicis, geboren 1965, seit fast zehn Jahren wohnhaft in Rio de Janeiro, dokumentiert seit 2014 die zunehmende Verschmutzung der Guanabarabucht. Sein Fokus liegt dabei auf den Lebens- und Arbeitsbedingungen der örtlichen Fischer.
Person Von Bastian Berbner und Dario de Dominicis