Der Ausweg in die Kälte

Die DDR-Lyrikerin Helga Novak fand ihr Glück auf Trawlern und in Islands Fischindustrie, ehe sie mit ihrer Kunst zur Staatsfeindin wurde

Der Liedermacher war begeistert. Was ihm diese schöne Frau von ihrem Leben in Island erzählte, war ganz nach seinem Geschmack. Dass Helga M. Novak in jungen Jahren Heringe, Kabeljaue und Dorsche im Akkord filetiert hatte, beeindruckte Wolf Biermann fast genauso stark wie ihre lapidare Sprache und ihre respektlosen Verse. Für Biermann war Novak die „stärks­te Dichterin unter den Deutschen“. Im Vergleich zu ihr, so Biermann, waren alle anderen Lyrikerinnen „Zierfische“. 

Dass die in der DDR aufgewachsene Autorin von politischen Gedichten, Natur- und Liebeslyrik, autobiografischen Romanen, Textmontagen und dokumentari­scher Prosa ausgerechnet in Reykjavík zur Schriftstellerin wurde, gehört zu den bizarrsten Anekdoten der deutsch-deutschen Literaturgeschichte. 

Im Winter 1957 betritt Helga Novak zum ersten Mal die Insel, die ihr weiteres Leben prägen sollte. Hals über Kopf hatte die 22-Jährige Leipzig verlassen und sich in Hamburg über Kopenhagen nach Reykjavík eingeschifft. Als sie endlich dort ankommt, muss Novak, die bereits seit Tagen an Seekrankheit leidet, von Bord getragen werden. Kein guter Anfang. „Ich war nicht in der Lage, eigenfüßig Boden zu gewinnen“, schreibt sie in ihrem Erinnerungsbuch „Im Schwanenhals“.

Was war geschehen? Der Staat, für den Novak als Jugendliche voller Stolz geeifert hatte, war für die freiheitsliebende Journalistikstudentin zur Bedrohung geworden. Die geforderten Spitzeldienste hatte sie verweigert, eine Voll­versammlung der Fakultät, auf der sie öffentlich Selbstkritik üben sollte, hatte Novak demonstrativ verlassen. Unter dem Johlen ihrer Kommilitonen, die eine harte Bestrafung gefordert hatten. Sie war schikaniert, bedroht und exmatrikuliert worden, erklärte schließlich ihren Parteiaustritt. Statt die isländischen Studenten auszuforschen, mit denen sie sich in Leipzig angefreundet hatte, ergriff Novak mit einem von ihnen die Flucht. 

Und so landet die junge DDR-Bürgerin in Reykjavík. Auf einer kalten und „winddurchtobten“ Insel, deren Bewohner sie nicht versteht. Die Sprache, der Lebensstil und selbst die Nahrung der Isländer sind ihr fremd. „Es wehte derart, dass ich mich zwischendrein in einen Fischladen rettete. Walklumpen, tellergroße Heilbuttköpfe, ein schwarzer Fisch wie eine Kugel mit Antennen, beinlange Seelachse, Rotbarsche, Flundern zappelten und blendeten meine Augen.“ Sie ist von Heimweh geplagt, unglücklich und schwanger – „… ich bleibe nicht hier, wo es keine Bäume gibt und die Berge kalt und nackt aus dem ebenen Land ragen“. 

Nach wenigen Monaten darf Novak, nachdem sie in der Handelsvertretung der DDR Abbitte geleistet hat, in den Arbeiter-und-Bauern-Staat zurückkehren. Drei Jahre lang hält sie es aus, schuftet als Monteurin in einer Fernsehröhrenfabrik, dann reist sie mit ihrem Sohn und einem anderen Mann erneut nach Island aus. Sie ist zum zweiten Mal schwanger, heiratet Thór Vigfússon am 1. Juli 1960. Novak arbeitet monatelang in Fischfabriken und fährt auf Trawlern zwischen Deutschland und Island hin und her. 

In ihrem Buch „Im Schwanenhals“ liest sich das wie ein großes, rauschhaftes Abenteuer. „Hunderte Frauen sind aus ganz Island zusammengeströmt, um das lebendige, das Auge blendende Silber in hohe Tonnen zu ordnen und Lage für Lage unter Salz zu begraben.“ 

Untergebracht in Baracken, arbeiten die Saisonkräfte im Akkord, feiern und trinken. Am liebsten das Nationalgetränk, ein hochprozentiges Gebräu aus Getreide und Kümmel namens „svartydauði“, schwarzer Tod. Die Arbeiterinnen haben keine Zeit, die Schutzhandschuhe auszuziehen, um die Schnapsflasche selbst anzusetzen. Deshalb wird „einer von den Tonnenbringern nach der Flasche geschickt, dann geht er in einer freien Minute von einer Frau zur nächsten, setzt ihr die Flasche an den Mund und schreitet immer mal wieder diese Gruppe ab“.


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mare No. 165

mare No. 165August / September 2024

Von Gero Günther

Autor Gero Günther bedauert es, dass er Helga ­Novaks Werk erst nach ihrem Tod entdeckt hat. Immerhin konnte er für seine Recherchen mit einigen Menschen sprechen, die die Schriftstellerin noch persönlich kannten. Alle hatten sehr lebhafte Erinnerungen an die radikale Autorin. Nicht immer nur gute, aber kaltgelassen hat Novak wohl niemanden, der ihr je begegnet war.

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Vita Autor Gero Günther bedauert es, dass er Helga ­Novaks Werk erst nach ihrem Tod entdeckt hat. Immerhin konnte er für seine Recherchen mit einigen Menschen sprechen, die die Schriftstellerin noch persönlich kannten. Alle hatten sehr lebhafte Erinnerungen an die radikale Autorin. Nicht immer nur gute, aber kaltgelassen hat Novak wohl niemanden, der ihr je begegnet war.
Person Von Gero Günther
Vita Autor Gero Günther bedauert es, dass er Helga ­Novaks Werk erst nach ihrem Tod entdeckt hat. Immerhin konnte er für seine Recherchen mit einigen Menschen sprechen, die die Schriftstellerin noch persönlich kannten. Alle hatten sehr lebhafte Erinnerungen an die radikale Autorin. Nicht immer nur gute, aber kaltgelassen hat Novak wohl niemanden, der ihr je begegnet war.
Person Von Gero Günther