Das Gesicht der Meere

Sie erspähen gigantische Wasserwirbel, bedrohliche Zyklone und giftige Algenteppiche vor den Küsten. Seit einem halben Jahrhundert liefern Satelliten der Wissenschaft essenzielle Daten für die Meeres- und Klimaforschung.

Der Bomber ist klein, winzig klein, eine brummende Fliege vor der mächtigen Wolkenwand, die im Sonnenlicht hell erstrahlt. Die Propellermaschine hält direkt auf die riesigen Türme aus Wasserdampf zu. Dann verschwindet sie im Weiß, im Wolkenmonster, im Hurrikan. Drinnen im Cockpit starren die drei Männer angestrengt geradeaus. Es ist schlagartig dunkel geworden. Regentropfen prasseln gegen die Scheibe. Die rasenden Luftmassen zerren an den Tragflächen, an den Propellern. Mit schweren Böen peitscht der Wirbelsturm das Flugzeug. Doch die robuste Maschine brummt weiter, kämpft sich 100 Meilen durch schwere Schauer.

Endlich durchbricht sie die Dunkelheit und schießt ins sonnendurchflutete Auge des Hurrikans. Hier, im wolkenlosen Rotationszentrum des Wirbels, rauscht feuchtwarme Luft wie in einem Kamin von der Meeresoberfläche Tausende Meter hoch in den Himmel. Sie reißt das Flugzeug mit sich wie einen Papierflieger. 100 Meter, 300 Meter, in wenigen Sekunden. Der Höhenmesser im Cockpit kreiselt wie verrückt. Doch der Pilot hält die Maschine auf Kurs und stiebt davon, zurück an die sichere US-Küste, zurück nach Washington.

Die drei Männer kommen heil nach Hause. Man feiert sie als Helden. Es ist September 1944. Vor wenigen Wochen sind die Alliierten in der Normandie gelandet. Die Truppen kämpfen verbissen gegen die deutschen Besatzer in Frankreich. Helden sind gut für die Moral. Vor allem einen feiert man: Harry Wexler, von dem die Idee zu diesem Wahnsinnsflug stammt. Wexler ist Meteorologe und Major beim Wetterdienst der US-Luftwaffe. Nun ist er der erste Forscher, der einen Hurrikan durchflogen hat.

Wexler hat ein Ziel: Er will vorhersagen können, wohin die 500 Kilometer breiten, zerstörerischen Megawirbel ziehen. Wexler ist ein außergewöhnlicher Typ, zweifellos. Er ist nicht nur der Erste, der die Radaranlagen der Luftwaffe nutzt, um durch die Wolken von Hurrikans hindurchzuschauen. Jahre später wird er auch zu den Wissenschaftlern gehören, die eine revolutionäre Idee wahr machen und ein neues Forschungsinstrument in den Weltraum schießen: den ersten Erdbeobachtungs- und Wettersatelliten. Von solchen Flugobjekten sprechen Mitte der 1940er Jahre nur die ganz visionären Zeitgeister. Die meisten Menschen kennen nicht einmal das Wort „Satellit“.

Heute umrunden mehr als 100 Fernerkundungssatelliten die Erde. Europa, Russland, die USA, Japan, China oder Indien – jede große Industrienation steuert ihre eigenen Raumfahrzeuge durchs All, und alle wollen dasselbe: Überblick. Die Stärke der Satelliten ist ihr Logenplatz. Aus 800 oder gar 36 000 Kilometer Höhe haben sie einen einzigartigen Panoramablick auf die Erde. Sie vermessen die Ausdehnung des arktischen Eisschilds, beäugen verschmutzte Küstengebiete oder starren auf die entrückten Städte abgeschotteter Staaten. Manche der künstlichen Augen sehen so scharf, dass Autos und Menschen sichtbar werden. Bürokraten der Europäischen Union analysieren Aufnahmen von Feldern und überprüfen akribisch, ob Brachland wirklich brach liegt oder eventuell doch beackert wird.

Mobilfunkunternehmen beauftragen Beratungsfirmen, die aus den Satellitendaten das Höhenprofil der Landschaft und den idealen Standort der Sendemasten herauslesen. Und in den USA flimmern in der Hurrikansaison fast ununterbrochen topaktuelle Bilder über den Bildschirm von den herannahenden Wirbeln. Wovon Wexler vor 60 Jahren träumte, ist dank der Beobachter im All längst Wirklichkeit: die Warnung vor dem Wirbelsturm.

Doch aller Anfang ist schwer. Lange Zeit erscheint die Vermählung von Wetterkunde und Fernbeobachtung aus dem All völlig abwegig. Auf die Frage des Science-Fiction-Autors Arthur C. Clarke („2001. Odyssee im Weltraum“), welchen Nutzen Satelliten künftig für die Meteorologie haben würden, antwortet Wexler 1954 trocken: „Der dürfte ziemlich gering sein.“ Doch das Gespräch hat Folgen. Wexler, inzwischen Chef des angesehenen U.S. Weather Bureau, lässt die Frage des exzentrischen Schriftstellers nicht mehr los. Er arbeitet sich tief in das Thema ein. Nach wenigen Wochen legt er geläutert einen Fachbericht vor. Sein Fazit: Satelliten sind für die Wetterforschung unverzichtbar. Er beginnt sofort mit der Arbeit. Während sich die USA und die Sowjetunion einen Wettlauf um den ersten Satellitenflug liefern, entwirft er Pläne für Fernerkundungssysteme. Im Oktober 1957 hebt der russische Erdsatellit „Sputnik 1“ ab, eine Blamage für die Supermacht USA. Doch viel mehr als ein schwaches Piepen schickt die medizinballgroße Blechkugel nicht zur Erde.

Wexlers Satellit soll mehr können. Und das kann er auch. „Television and Infrared Observation Satellite“ („Tiros“) heißt der Raumgleiter, der Fernsehsignale um die Erde schicken und außerdem mit einer Infrarotkamera die Erdoberfläche beobachten wird. Am 1. April 1960 trägt ihn eine Rakete in den Orbit. Die Bilder von „Tiros“ sind grau und unscharf und würden uns heute kaum begeistern. Damals aber staunt die westliche Welt. Zum ersten Mal blickt die Menschheit von weit oben auf Meere und Wolken. Die Bilder zeigen die Wirbel eines Tiefdruckgebiets in ihrer ganzen Größe – und einen Taifun, der sich vor Australien bildet. Die Amerikaner erkennen: Der Traum von der Hurrikanvorhersage kann endlich wahr werden. „Die frühen Satellitendaten haben unser Bild von der Erde grundlegend verändert“, erinnert sich Hartmut Graßl, ehemaliger Direktor des Max-Planck-Instituts für Meteorologie in Hamburg. „Sie haben der Menschheit die Zerbrechlichkeit und Winzigkeit des Globus und die Empfindlichkeit des Systems Erde vor Augen geführt.“


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  mare No. 72

No. 72Februar / März 2009

Von Tim Schröder und Claudius Diemer

Um nicht den Überblick zu verlieren, hat sich der Oldenburger Wissenschaftsjournalist Tim Schröder, Jahrgang 1970, im Computer eine Tabelle der wichtigsten Satelliten und ihrer Bordgeräte angelegt. Nachdem er sie auf Schriftgröße sechs Punkt verkleinert hatte, passte endlich alles auf ein DIN-A4-Blatt.

Seine außergewöhnlichen Satellitenbilder erzeugt Claudius Diemer, geboren 1969, in einem mehrstufigen Verfahren, dem eine aufwendige Datenrecherche vorausgeht. Sind geeignete Bildrohdaten gefunden – die er von den Datenaufbereitungsunternehmen GLCF und USGS erhält und alle vom US-Erdbeobachtungssatelliten „Landsat 7“ stammen –, werden daraus zunächst Echtfarbbilder erstellt. Für ein Motiv müssen fast immer mehrere solcher Bilder wie bei einem Puzzle zusammengebracht werden. Manchmal sind über 100 Bilder beteiligt. Damit sie zueinanderpassen, muss zuvor ihre Geometrie vereinheitlicht werden. Danach werden Helligkeits-, Kontrast- und Farbunterschiede ausgeglichen und Bildelemente entlang von Landschaftsgrenzen „verzahnt“; nur so kann ein perfekter, homogener Bildeindruck entstehen. Durch die Herausarbeitung von Höhen und Tiefen entstehen schließlich gestochen scharfe und besonders plastische Bilder aus der Weltraumperspektive im Grenzbereich von Kunst, Wissenschaft und Dokumentation.

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Vita Um nicht den Überblick zu verlieren, hat sich der Oldenburger Wissenschaftsjournalist Tim Schröder, Jahrgang 1970, im Computer eine Tabelle der wichtigsten Satelliten und ihrer Bordgeräte angelegt. Nachdem er sie auf Schriftgröße sechs Punkt verkleinert hatte, passte endlich alles auf ein DIN-A4-Blatt.

Seine außergewöhnlichen Satellitenbilder erzeugt Claudius Diemer, geboren 1969, in einem mehrstufigen Verfahren, dem eine aufwendige Datenrecherche vorausgeht. Sind geeignete Bildrohdaten gefunden – die er von den Datenaufbereitungsunternehmen GLCF und USGS erhält und alle vom US-Erdbeobachtungssatelliten „Landsat 7“ stammen –, werden daraus zunächst Echtfarbbilder erstellt. Für ein Motiv müssen fast immer mehrere solcher Bilder wie bei einem Puzzle zusammengebracht werden. Manchmal sind über 100 Bilder beteiligt. Damit sie zueinanderpassen, muss zuvor ihre Geometrie vereinheitlicht werden. Danach werden Helligkeits-, Kontrast- und Farbunterschiede ausgeglichen und Bildelemente entlang von Landschaftsgrenzen „verzahnt“; nur so kann ein perfekter, homogener Bildeindruck entstehen. Durch die Herausarbeitung von Höhen und Tiefen entstehen schließlich gestochen scharfe und besonders plastische Bilder aus der Weltraumperspektive im Grenzbereich von Kunst, Wissenschaft und Dokumentation.
Person Von Tim Schröder und Claudius Diemer
Vita Um nicht den Überblick zu verlieren, hat sich der Oldenburger Wissenschaftsjournalist Tim Schröder, Jahrgang 1970, im Computer eine Tabelle der wichtigsten Satelliten und ihrer Bordgeräte angelegt. Nachdem er sie auf Schriftgröße sechs Punkt verkleinert hatte, passte endlich alles auf ein DIN-A4-Blatt.

Seine außergewöhnlichen Satellitenbilder erzeugt Claudius Diemer, geboren 1969, in einem mehrstufigen Verfahren, dem eine aufwendige Datenrecherche vorausgeht. Sind geeignete Bildrohdaten gefunden – die er von den Datenaufbereitungsunternehmen GLCF und USGS erhält und alle vom US-Erdbeobachtungssatelliten „Landsat 7“ stammen –, werden daraus zunächst Echtfarbbilder erstellt. Für ein Motiv müssen fast immer mehrere solcher Bilder wie bei einem Puzzle zusammengebracht werden. Manchmal sind über 100 Bilder beteiligt. Damit sie zueinanderpassen, muss zuvor ihre Geometrie vereinheitlicht werden. Danach werden Helligkeits-, Kontrast- und Farbunterschiede ausgeglichen und Bildelemente entlang von Landschaftsgrenzen „verzahnt“; nur so kann ein perfekter, homogener Bildeindruck entstehen. Durch die Herausarbeitung von Höhen und Tiefen entstehen schließlich gestochen scharfe und besonders plastische Bilder aus der Weltraumperspektive im Grenzbereich von Kunst, Wissenschaft und Dokumentation.
Person Von Tim Schröder und Claudius Diemer