Das Floß der Medusa

Géricaults Gemälde gilt als das Sinnbild des Scheiterns. Keiner malte die Folgen des Schiffbruchs so eindringlich

Durch die Wogen bald vor-, bald rückwärts geschleudert, zuweilen ins Meer gestürzt, schwebend zwischen Leben und Tod, wehklagend über unser Unglück, gewiss, umzukommen... – dies war unsere Lage bis Tagesanbruch. Unaufhörlich hörte man das Geschrei der Soldaten und Matrosen. Sie bereiteten sich zum Tode, nahmen Abschied voneinander und flehten zu Gottes Barmherzigkeit; alle taten Gelübde, wiewohl sie überzeugt waren, dass es ihnen nicht mehr vergönnt sein würde, sie zu erfüllen. Schreckliche Lage! Wie könnte man sich davon eine Vorstellung machen, die nicht hinter der Wirklichkeit zurückbliebe!“

Von diesem letzten Satz geht eine Initialwirkung aus. Es ist der Maler Théodore Géricault, der hier liest. Das Buch in seinen Händen ist soeben, im November 1817, erschienen. Nicht, dass es ein Bestseller wäre, aber es ist geeignet, als Schmähschrift an die damaligen Regierenden gelesen zu werden. Die beiden Autoren sind Überlebende aus einem Schiffbruch: Alexandre Corréard und Henri Savigny, akademischen Standes, französische Staatsbürger. Sie nehmen sich gegenseitig in die Chronistenpflicht und annoncieren durch ihren schockierenden Bericht „Naufrage de la Frégate La Méduse“ („Schiffbruch der Fregatte Medusa“) die skandalösen Ereignisse im Jahre 1816 anlässlich einer Schiffsexpedition vor der Küste Westafrikas. Was aber war der Skandal?

Die Autoren konzentrieren sich vor allem auf eines: die fehlende Navigationskunst des Kapitäns de Chaumareys. Bei der raschen Zusammenstellung der kolonialen Unternehmen im Wettlauf mit den anderen europäischen Mächten setzt die Günstlingswirtschaft schon in den Mutterländern ein: Wer servil ist, hat gute Karten und bekommt die lukrative Befehlsgewalt über ein Schiff zuerkannt. Kapitän de Chaumareys indes beherrscht sein Handwerk nur unzureichend und schlägt die Warnungen gestandener Seemänner in den Wind.

Die Fregatte, die mit einigen Begleitbooten unterwegs ist, segelt keineswegs durch leichtes Gewässer. Untiefen, Sandbänke, Riffe und tückische Strömungen versprechen eine Fahrt, die äußerstes navigatorisches Geschick erfordert. Doch davon ist die Leitung der Crew weit entfernt. Sie verwechselt das in Sichtweite liegende Cap Blanc mit einer Wolke, sie versäumt, Signale der Begleitschiffe mit Fackeln zu beantworten. Und so wird die Reise mehr und mehr zu einer maritimen Tragikomödie. Nicht einmal das kleine Einmaleins der Seefahrt scheint man zu beherrschen, nachdem eine gelbliche Trübung des Wassers auf eine Sandbank hindeutet. Da nützt auch das eilig herausgeworfene Senkblei nichts mehr und die Versuche, gegenzusteuern, als die „Medusa“ schließlich auf Grund liegt.

Dem nautischen Skandal folgt ein ethischer: Die „Medusa“ muss aufgegeben und evakuiert werden. Und solche Extremsituationen sind a priori Lehrstücke menschlichen Verhaltens. Corréard und Savigny zeigen detailliert auf, wie das arrogante Gebaren des Kapitäns und seiner Offiziere im Krisenmanagement kulminiert. In der Bucht von Arguin herrscht in diesen entscheidenden Stunden ein Tohuwabohu, wie es schlimmer nicht ausfallen könnte. Während es sich die Privilegierten – allen voran der Kapitän – nicht nehmen lassen, sich per Seilwinde und komfortabel auf eines der Ersatzschiffe zu hieven, verharren ein paar ganz Ängstliche auf dem Wrack. Die anderen steigen auf ein wackeliges, nicht navigierbares Floß um, ohne Kompass oder Seekarten und mit nur wenig Ess- und Trinkbarem, das sich in der Mitte des Vehikels verstauen lässt.

Ruchbare Klimax dieser bis hierhin reichlich skandalträchtigen Geschichte: Das Verbindungsseil zwischen dem Floß und einem der Rettungsboote wird gekappt, sodass das vollbesetzte Menschenfloß immer weiter ins offene Meer abtreibt. Die Korrupten in den Booten kalkulieren, die anderen schamlos im Stich lassend, deren qualvollen Tod ein. Corréards und Savignys verfertigtes Dokument ist ganz und gar unbequem für die verbeamtete Clique, die daheim schon an feigen Dementis und rhetorischen Verschleierungen bastelte.

Deshalb geht dieser Bericht zuallererst an das französische Marineministerium, denn die Besatzung der „Medusa“ hatte sich auf dieser Fahrt nicht nur illoyal verhalten, sie hatte gegen einen unverbrieften Kodex auf See und gegen geltendes Gesetz verstoßen. Bei allem Wert als literarischer Vorlage dieses „document humain“, es geht den beiden Autoren um Schadensersatz, um juristische Konsequenzen. Eigentlich geht es aber um das Bravourstück, wie der Mensch überleben kann. Denn der Bericht beschreibt neben dem unabänderlichen Schiffbruch der „Medusa“ vor allem eine fast zweiwöchige Irrfahrt mit dem notdürftig auf See gezimmerten Floß. Es ist jenes Floß der „Medusa“, dem der Maler Géricault zu Weltruhm verhalf, indem er ein gleichnamiges Bild davon malte.

Und mögen die politischen Konsequenzen, die sich beide Autoren von ihrer vielfach übersetzten Schiffbruch-Chronik erhofft haben, von nur marginaler Bedeutung gewesen sein, so hat das Dokument als künstlerische Anstiftung gewirkt und die radikalste Darstellung vom Schiffbruch überhaupt zur Folge gehabt. Die unzähligen Marinebilder, die vor und nach Géricaults furiosem Auftritt datiert sind und die das Scheitern der Schiffe auf den Weltmeeren begleiteten, haben nie wieder die Wirkung erreicht, wie sie das „Floß der Medusa“ beanspruchen kann.


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mare No. 16

No. 16Oktober / November 1999

Von Michael Westphal

Michael Westphal, Jahrgang 1965, lebt als freier Autor in Bielefeld und promoviert über Peter Weiss’ Die Ästhetik des Widerstands. Für mare besprach er zuletzt Kari Kösters Roman Die letzten Tage von Rungholt (Heft 6)

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Vita Michael Westphal, Jahrgang 1965, lebt als freier Autor in Bielefeld und promoviert über Peter Weiss’ Die Ästhetik des Widerstands. Für mare besprach er zuletzt Kari Kösters Roman Die letzten Tage von Rungholt (Heft 6)
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Vita Michael Westphal, Jahrgang 1965, lebt als freier Autor in Bielefeld und promoviert über Peter Weiss’ Die Ästhetik des Widerstands. Für mare besprach er zuletzt Kari Kösters Roman Die letzten Tage von Rungholt (Heft 6)
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