Buntes Treiben auf hoher See

Wenn Fracht über Bord geht, hilft es auch der Meeresforschung

Kinderglück an den Atlantikstränden der USA: Für den kommenden Sommer ist dort eine Lego-Schwemme vorausgesagt. Dann sollen Tausende, vielleicht über zehntausend Spielzeugfiguren in auffälligen Farben an die Küsten der Bundesstaaten North und South Carolina, Georgia und Florida angespült werden. Fleißige Strandsucher können dann Taucher, Aquanauten, Tintenfische und Piraten entdecken – alles für Seeabenteuer, als gehe es um einen zweifelhaften Reklametrick der dänischen Plastik-Schmelze.

Auslöser der Lego-Flut war eine gewaltige Woge, ermittelte der US-Meeresforscher Curtis C. Ebbesmeyer. Am Morgen des 13. Februar 1997 traf sie in schwerem Sturm 20 Seemeilen südlich des englischen Land’s End auf den Containerfrachter „Tokio Express“. Das Schiff stieg zunächst in einem Winkel von 60 Grad auf und senkte sich dann in einen Winkel von 40 Grad abwärts. Folge des – so der Kapitän – „Jahrhundert-Phänomens“: Zahlreiche Container rutschten über Bord, von denen mindestens einer auseinanderbrach. Er enthielt fünf Millionen Lego-Komponenten, darunter zahlreiche Figürchen für Wasserabenteuer, die in den USA zu kompletten Sets zusammengesetzt werden sollten.

Sie werden nun nicht wie geplant per „Tokio Express“ transportiert, sondern als Treibgut mit dem Kanaren- und dem Nordäquatorialstrom, der im Winter von Osten nach Westen fließt. Ebbesmeyer sagt nach dem Studium der transozeanischen Strömungskarten voraus, dass das Spielzeug dafür etwas mehr als ein Jahr brauchen dürfte, bevor ein nicht angeschwemmter Teil vom Golfstrom aufgenommen und wieder nach Osten verfrachtet wird – zurück nach Europa, wo Legos Kraken und Piraten vermutlich noch 1999 ankommen werden.

Mit solchen Prognosen hat Ebbesmeyer Erfahrung. Wenn Fracht über Bord geht, wird der Ozeanograph aus Seattle aufmerksam. Das Sammeln am Strand freut den Finder, und dessen Meldung hilft dem Meeresforscher, wertvolle Details über die weiträumigen Bewegungen des Oberflächenwassers zu gewinnen. Reiner Spaß ist das nicht: So lassen sich auch Bedrohungen durch eine Ölpest oder durch schwimmende Giftfässer abschätzen; die Parameter sind auch für die Kalkulation von Eisbergen oder Treibalgen in anderen Teilen der Ozeane hilfreich. Denn Ebbesmeyer nutzt die Meldungen interessanter oder skurriler Funde, damit die ozeanographischen Prognoseprogramme verfeinert werden können, deren Plausibilität von vielen Faktoren abhängt.

Das erste derartige Vorkommnis war die inzwischen legendäre „Nike-Schwemme“ von 1991. Von Korea in die USA unterwegs, gingen dem Frachter „Hansa Carrier“ am 27. Mai 1990 tausend Seemeilen südlich der Alaska-Halbinsel im schweren Sturm fünf Container voller Nike-Schuhe über Bord. Vier davon öffneten sich und entließen 61000 Nikes. Das ganze nächste Jahr hindurch wurden die nicht ganz billigen Sportschuhe an der nordamerikanischen Pazifikküste angespült. Nike-verrückte Strandläufer sammelten sie mit Begeisterung ein. Denn die modischen Treter waren selbst nach dem langen Aufenthalt im aggressiven Salzwasser noch tragbar. Dummerweise wurden die Schuhe nicht paarweise, sondern einzeln angeschwemmt. Erst als ein Küstenbewohner per E-Mail und Telefon eine Tausch- und Vermittlungsbörse einrichtete, kam zusammen, was zusammen gehörte: linke und rechte, große und kleine. Was Nikes Marketing-Manager nur begrüßen konnten, denn das Medienecho war gewaltig.

Ebbesmeyer und der Programmierer James Ingraham von der US-Fischereiverwaltung trugen nun die Meldungen – an manchen Tagen wurden mehr als hundert Schuhe gefunden – zusammen und verglichen sie mit den Ergebnissen von Ingrahams Computerprogramm „Oscurs“, der „Ozeanischen Oberflächenströmungssimulation“. Volltreffer: Die Rechnung, dass die Schuhe vom Ort des Untergangs bis an die Küste rund 220 Tage brauchen würden, stimmte fast genau mit den Funddaten überein. Ebbesmeyer und Ingraham trauten sich dann, Ankündigungen über den weiteren Verlauf zu machen: Ein Teil der Schuhe sei mit der Davidson-Strömung die kanadische Küste hinauf unterwegs, ein anderer Teil werde mit dem Kalifornischen Strom wieder nach Westen, Richtung Asien, getragen. Tatsächlich wurden 1993 einzelne, teils noch tragbare Schuhe vor den Hawaii-Inseln gefunden, 1994 einige an philippinischen und japanischen Küsten. Weitere dürften ab 1995 mit der Kuroshio-Trift, einem nordpazifischen Strom, wieder Richtung Nordamerika unterwegs, 1996 dort angelangt oder seit 1997 auf ihrem zweiten Weg nach Asien sein. Was nach sechs oder sieben Jahren im Salzwasser noch von einem Nike-Schuh übrigbleibt, mag Materialforscher interessieren, Strandläufer nicht: Funde wurden keine mehr bekannt.

Der Kontakt zwischen Ebbesmeyer und Ingraham blieb. Des Forscherpaares zweite Stunde schlug, als zwischen November 1992 und August 1993 rund 400 Badewannenspielzeuge – gelbe Entchen, blaue Schildkröten, rote Biber und grüne Frösche – vor der Südküste Alaskas auftauchten. Anders als bei den Turnschuhen dauerte es Monate, bis die beiden die Ursache herausfinden und veröffentlichen konnten, und das auch nur unter der Auflage, Frachter und Reederei nicht zu nennen: Am 10. Januar 1992 war ein Containerschiff auf dem Weg von Hongkong nach Tacoma im US-Staat Washington ungefähr auf der Höhe der internationalen Datumsgrenze in schwere See gekommen und hatte ein Dutzend Container verloren, darunter einen mit 29000 Plastikspielzeugen. Ein fast unglaublicher Zufall wollte es, dass die Armada der Badeenten kurz darauf die Stelle passiert haben musste, an der zwei Jahre zuvor die Nike-Turnschuhe ihre Reise begannen.

Aber warum waren die Spielzeuge vor Alaska gestrandet, die Schuhe aber weiter südlich? Nikes schwimmen stehend im Seewasser, mit den Hacken nach oben, und ragen kaum aus dem Wasser, fanden Ebbesmeyer und Ingraham heraus. Die Entchen und die anderen Schwimmtiere jedoch waren ungleich stärker dem Wind ausgesetzt und nahmen eine andere Richtung, hoch an die Küste von Alaska und wieder nach Westen. Einige wenige mögen von dort Richtung Japan geschwommen sein, die meisten sind aber wohl nach Norden abgebogen. 1994 wurden die ersten Figuren aus der Bering-See gemeldet. Mit Hilfe von Windmeldungen, Strömungskarten, den Ankunftsdaten der Nike-Schuhe und einer noch ausgefeilteren Computersimulation sagten die beiden voraus, dass die Entchen inzwischen auf dem Weg nach Europa sind. Spätestens seit dem Winter 1994/95 dürften viele im Packeis eingeschlossen sein. Mit dessen Transpolar-Trift um täglich acht Kilometer Richtung Europa transportiert, dürften sie alsbald (aber nicht vor 1999) im Nordatlantik auftauchen und dann 15000 Kilometer zurückgelegt haben. Im Jahr 2005 ist dann das Plastikgetier über die ganze nördliche Hemisphäre verteilt – vorausgesetzt, dass sich an ihm keine Muscheln oder andere Lebewesen festsetzen, die es in die Tiefe ziehen.


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mare No. 8

No. 8Juni / Juli 1998

Von Dietmar Bartz

Dietmar Bartz, Jahrgang 1957, war zunächst Staatsarchivar, dann Café-Betreiber, schließlich Wirtschaftsredakteur bei der taz und der Wochenpost. Seit 1994 ist er freier Korrespondent und Buchautor in der Slowakei.

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Vita Dietmar Bartz, Jahrgang 1957, war zunächst Staatsarchivar, dann Café-Betreiber, schließlich Wirtschaftsredakteur bei der taz und der Wochenpost. Seit 1994 ist er freier Korrespondent und Buchautor in der Slowakei.
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Vita Dietmar Bartz, Jahrgang 1957, war zunächst Staatsarchivar, dann Café-Betreiber, schließlich Wirtschaftsredakteur bei der taz und der Wochenpost. Seit 1994 ist er freier Korrespondent und Buchautor in der Slowakei.
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