Dass wir in einer anderen Welt landeten, wenn unsere Familie zu der Insel fuhr, wusste ich schon als Kind, obwohl ich es natürlich noch nicht so ausdrücken konnte. Sobald die Fähre nach dreimaligem kurzen Tuten zu vibrieren begann, die Festmacherleinen losgeworfen wurden und das Schiff sich langsam vom Kai löste, wusste ich, dass etwas Bedeutsames geschah. Auf beiden Seiten glitten die Molenköpfe vorbei, das Festland blieb zurück, und manchmal verging eine ganze Stunde, bis am Horizont die Insel in Sicht kam. Das Schiff hatte sich von der vertrauten Welt entfernt und war unterwegs zu einem Ziel, das auf eine für mich unsagbare Weise anders war als das Alltägliche, unser Dorf mit den Wäldern ringsum, den geklinkerten Straßen, den Wiesen und Weiden.
Es war immer Herbst, wenn wir zur Insel fuhren. Das Meer war schon unruhig, der Wind peitschte weiße Streifen übers Wasser. Die Matrosen, die Tabletts umhertrugen, rechneten mit plötzlichen Schiffsbewegungen, etwas unsicher tasteten sie mit der freien Hand über die Rückenlehnen der Bänke.
Erst im Windschatten der Insel beruhigte sich das Schiff. Ich erkannte die Männer, die auf dem Kai die Leinen an den Pollern festmachten. Sie waren Inselbewohner; eine andere Menschenart. Sie hatten gebräunte Gesichter, vom Wind zerzaustes Haar, sie rauchten selbst gedrehte Zigaretten mit durchsichtigem Papier, riefen sich Unverständliches zu. Und vom oberen Deck aus sah man hinter dem Dorf die Dünen aufragen, stille Wände aus Sand, davor die kleinen Häuser. Vom Himmel über uns, vom Watt ringsum, aus der Nähe und von weiter weg, von überallher kamen die Rufe von Vögeln. Es waren die Laute, die man nur hier hörte. Hier war alles weitergegangen, und doch war keine Zeit verstrichen. Am nächsten Tag würden Opa und Oma kommen. Alle lebten noch.
In westlicher Richtung eine halbe Stunde zu Fuß vom Inseldorf entfernt, auf der anderen Seite eines Waldes, lag eine hohe Düne. Wenn ich dorthin wollte, folgte ich auf der Wattseite dem Deich und ging dann durch den Wald. Die Baumkronen berührten sich, Windböen rauschten darin. Ich kannte den Weg, nur war er jedes Mal weiter als in meiner Erinnerung, und ich brauchte länger als gedacht. Wenn ich dann aber endlich aus dem Halbdunkel des Waldrandes ins Licht trat, die Düne vor mir liegen sah, hinaufstieg, die Dinge unten zurückblieben, ich den Dünenkamm erreichte und alles überblicken konnte, sah ich von dieser Anhöhe aus ringsum das Meer, einige wenige Schiffe, die Küsten anderer Inseln, die Wälder und Dünen der eigenen, und ich war ein kleiner Punkt hoch oben über alldem. Und ich wusste: Ich bin hier zwar nicht zu Hause, aber ich erkenne doch schon alles. Für das nächste Mal, wenn ich wiederkomme, und das nächste Mal danach, und das danach.
Seitdem bin ich oft wiedergekommen. Meine Großeltern sind gestorben, auch meine Eltern, ich habe Kinder, ich habe ein Enkelkind, Generationen sind nachgerückt, aber die Insel liegt immer noch hier, außerhalb der Zeit, und mitten auf der Insel, auf der anderen Seite des Waldes, die Düne.
Immer noch gehe ich über die Deichkrone und durch den Wald zu der Düne, um hinaufzusteigen und mich umzublicken. Doch anders als damals komme ich unterwegs an Bänken vorbei, die zum Sitzen einladen, Bänken mit kleinen Schildern daran: In liebevoller Erinnerung, Für immer in unseren Herzen, Im Gedenken an. Und seit ich bewusst darauf achte, habe ich gesehen, dass überall auf der Insel solche Bänke stehen. Ich weiß jetzt, dass nicht nur die Lebenden, sondern auch die Toten zur Insel zurückkehren. Sie streifen dort umher, wenn ich nicht da bin, vielleicht auch, wenn ich da bin, sie setzen sich unter die rauschenden Bäume, betrachten von ihren Bänken aus, mal allein, mal mit anderen, die zum Stillstand gekommene Zeit, den lautlos wogenden Strandhafer. Sie sitzen da und blicken Möwen nach und müssen nirgendwohin.
Bei einem dieser Spaziergänge begegnete ich einer Frau, die mit ihrem Hund über die Dünenwege ging. „Gleich da hinten“, sagte sie, „steht meine Bank. Wenn ich tot bin, wird da ein Schild mit meinem Namen angebracht.“
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Mathijs Deen, geboren 1962 in den Niederlanden, hat im mareverlag fünf Romane veröffentlicht. Für „Der Taucher“, Band zwei seiner Reihe um Liewe Cupido, den wortkargen Ermittler im Grenzgebiet am Wattenmeer, erhielt er 2024 den „Gouden Strop“, den bedeutendsten Krimipreis seines Heimatlands.
Lieferstatus | Lieferbar |
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Vita | Mathijs Deen, geboren 1962 in den Niederlanden, hat im mareverlag fünf Romane veröffentlicht. Für „Der Taucher“, Band zwei seiner Reihe um Liewe Cupido, den wortkargen Ermittler im Grenzgebiet am Wattenmeer, erhielt er 2024 den „Gouden Strop“, den bedeutendsten Krimipreis seines Heimatlands. |
Person | Von Mathijs Deen |
Lieferstatus | Lieferbar |
Vita | Mathijs Deen, geboren 1962 in den Niederlanden, hat im mareverlag fünf Romane veröffentlicht. Für „Der Taucher“, Band zwei seiner Reihe um Liewe Cupido, den wortkargen Ermittler im Grenzgebiet am Wattenmeer, erhielt er 2024 den „Gouden Strop“, den bedeutendsten Krimipreis seines Heimatlands. |
Person | Von Mathijs Deen |