Atlantische Sehnsucht

Was treibt uns über das Meer?

Die Winde beherrschen die Meere, nicht der Mensch. Diese Erkenntnis gewinnt man schnell und eindrücklich beim Anblick der tosenden Wassermassen, die sich an den Klippen von Achill Island brechen. Achill Island, westlichster Zipfel Irlands, graues Land im grauen Meer. Eine Halbinsel am Ende der Welt. Das Ende der Welt? Hat man sich vom ersten Schwindel erholt, schweift der Blick über die gurgelnde Brandung, 100 Meter weiter unten, über die Schaumkämme der brodelnden See, bis er sich am bläßlichen Horizont verliert. Ja, hier muß sie zu Ende sein, unsere gute, alte Welt. Der Atlantik grenzt sie in seiner unendlichen Weite ein.

Hier, am westlichsten Ende Europas, scheint nur der Wind Kenntnis über das Ungewisse zu besitzen, über das Unvorstellbare, das Ende oder das Neue, die Unendlichkeit. Wieviele Romantiker, Abenteurer, Philosophen und Wissenschaftler verirrten sich schon, ihren suchenden Augen folgend, beim Anblick des Atlantiks in Ahnungen und Phantasien?

Andersdenkende suchten nach neuen Orten für ihre persönliche Entfaltung, Gejagte und Verfolgte nach Schutz vor ihren Peinigern, Könige und Kaiser nach neuen Gefilden für ihre Hegemoniegelüste und ihre Staatskassen. Der Atlantik weckte nicht nur Sehnsüchte, sondern bot auch die Möglichkeit, auf so viele Fragen Antworten zu finden.

Im 20. Jahrhundert, dem Zeitalter der Technologie und des Fortschritts, scheinen schon viele Fragen ihre Antwort gefunden zu haben. Scheint der Atlantik in seiner Breite zu schrumpfen. Aber noch immer geht von ihm eine ungebrochene Faszination aus, versuchen wir dem Atlantik seine letzten Geheimnisse zu entlocken, messen wir uns mit seinen Gewalten und flüchten in seine scheinbare Grenzenlosigkeit.

Die lange Geschichte der dokumentierten Atlantiküberquerungen begann vor 500 Jahren mit Christoph Kolumbus, dem ersten Europäer, dessen Entdeckung Amerikas in den Geschichtsbüchern verbürgt ist. Die Legende der Unendlichkeit des Atlantiks war endgültig überholt - jetzt auch in Europa. Denn in den Hochkulturen Mexikos war man schon weiter und zu jener Zeit bereits ohnedies davon überzeugt, daß der Atlantik auf der anderen Seite durchaus von Ufern begrenzt ist, hinter denen Menschen wohnen. Der Kult der Azteken um „Quetzalcoatl", dem bärtigen weißen Mann, der von weit aus dem Osten über den Ozean gekommen und dorthin auch wieder zurückgesegelt sei, ist nur der bekannteste, aber weitaus nicht einzige Hinweis darauf. Die sehnsüchtig erwartete Rückkehr dieses verehrten „Bringers des Wissens" und „Baumeisters der amerikanischen Kultur" über den Atlantik öffnete den Konquistadoren alle Tore.

Kolumbus' Entdeckung veränderte das Weltbild - hüben wie drüben. Seine Reise wurde zum Inbegriff für Entdecker und Abenteurer. Von nun an war es nicht mehr ein romantischer Drang, der einen von den Klippen Achill Islands ins graue Meer zu ziehen drohte, jetzt begann die Zeit der Atlantiküberquerungen, der Herausforderung, diese Neue Welt über den gefürchteten Ozean zu erreichen.

Schon diese erste Fahrt der „Santa Maria" schürte das Mysterium der Atlantiküberquerungen. Kolumbus wurde nicht nur durch seine Entdeckung zum Mythos, sondern auch durch sein nautisches Abenteuer. Noch heute ist vieles an seiner ersten Reise unklar und geheimnisvoll. Wie konnte er schon vorher behaupten, daß er „nach 750 Leguas" Land antreffen würde - was ziemlich genau stimmte, wenn es sich auch nicht um Indien oder China handeln sollte? Und warum hatte er, der vorgab, zu diesen Hochkulturen segeln zu wollen, so viele Glasperlen und Tand zum Tausch dabei? War er im Besitz einer geheimen Karte von seinem Ziel, der karibischen Inselwelt? Und schließlich, wo landete er nun wirklich als erstes? Ungefähr ein Dutzend kleiner Karibikinseln nimmt für sich diesen historischen Ort in Anspruch. Da wurde der Name von Watlin Island kurzerhand in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts in San Salvador geändert, nur weil Kolumbus seinen ersten Schiffshafen mit San Salvador angab. Luis Marden segelte die Route Kolumbus' nach und landete in Samana Cay, andere behaupten, die vom Admiral im Logbuch beschriebene „große Lagune" inmitten der Insel gäbe es in dieser Art nur auf Grand Turk. So und anders wurde also schon die erste bekannte Atlantiküberquerung zum Mythos.

Kolumbus folgten andere Entdecker, und schnell begriffen die Europäer Amerika nicht nur als neuen Kontinent, sondern auch als Wirtschafts- und Lebensraum. Die Bedeutung des Begriffs „Neue Welt" erhielt durch einen anderen Mythos eine bis heute erstaunliche Bedeutungskraft: dem der „Mayflower". Für viele Einwandererfamilien und ihre Nachkommen symbolisiert dieses legendäre Schiff noch heute ihren Anspruch auf das Anrecht Amerikaner zu sein. Danach wären nicht die Indianer die eigentlichen Amerikaner, sondern die zugereisten Siedler und Kaufleute. Kurzum: um sich Amerikanerin oder Amerikaner nennen zu dürfen, bedarf es des Nachweises, damals den Atlantik überquert zu haben. Die sicherlich einmalige, ja gefährliche Definition eines Nationalgefühls wenden viele Amerikaner noch heute an, um sich zusätzlich von allen anderen Einwanderern abzugrenzen, die damals nicht an Bord der „Mayflower" waren. Diesem Anspruch entsprechend müßten es Tausende gewesen sein, die auf dem für heutige Begriffe kleinen Schiffchen die abenteuerliche Reise über den Atlantik wagten. Auch dies ist ein Zeichen für die Bedeutung des Atlantiks und seiner Beherrschung. Seine Dimensionen und Gefahren bilden bis heute eine Herausforderung, die beiden so unterschiedlichen Welten miteinander zu verbinden.

Wirtschaftliche Aspekte bildeten die Grundlage des ersten großen Rennens über den Atlantik. Es wurde jedoch in einer Heftigkeit und mit Emotionen ausgetragen, die nur mit der speziellen Bedeutung des „großen Teichs" für unsere Geschichte erklärt werden kann.

Als „Kampfbahnen für einen heftigen und unaufhörlichen internationalen Wettbewerb der Schiffahrtsgesellschaften" beschreibt der Autor Tom Hughes die nördlichen Schiffahrtswege im Atlantik in der Zeit zwischen 1840 und 1973. Hughes meint dabei den Kampf um das Blaue Band. Der amerikanische Raddampfer „Savannah", 1818 im Staat New York als Segelschiff auf Stapel gelegt, überquerte als erstes Schiff mit einer Hilfsdampfmaschinenanlage den Nordatlantik. Aber erst zur legendären Jungfernfahrt des hölzernen Raddampfers „Britannia" (von Liverpool nach Halifax in zwölf Tagen und acht Stunden) eröffnete Cunard Line am 3. Juli 1840 mit einer Meldung im „Liverpool Mercury" ihren regelmäßigen Passagier- und Postdienst über den Nordatlantik und damit den Kampf um das Blaue Band. Die längere, südlichere Route der Segler, die die Passatwinde nutzen mußten, gehörte für die Berufsschiffahrt endgültig der Vergangenheit an.


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mare No. 1

No. 1April / Mai 1997

Ein Essay von Nikolaus Gelpke

Nikolaus Gelpke, 1962 in Zürich geboren, ist Verleger des mareverlags und Chefredakteur der Zeitschrift mare. Auf Anregung von Elisabeth Mann Borgese studierte er Meeresbiologie an der Universität Kiel. Nach dem Diplom führte seine Leidenschaft für die See zur Idee von mare: Die erste Ausgabe erschien 1997; 2001 ging die Dokumentationsreihe mareTV im NDR erstmalig auf Sendung. Seit 2002 gehören auch Bücher zum Programm des mareverlags. Nikolaus Gelpke ist Initiator des World Ocean Review, der seit 2010 jährlich erscheint. Er ist Präsident der Ocean Science and Research Foundation und des International Ocean Institute sowie Schirmherr der GAME am GEOMAR in Kiel. Außerdem ist er Mitglied im Beirat der Deutschen Umweltstiftung und im Evaluationsteam des Exzellenzclusters Ozean der Zukunft in Kiel.

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Vita Nikolaus Gelpke, 1962 in Zürich geboren, ist Verleger des mareverlags und Chefredakteur der Zeitschrift mare. Auf Anregung von Elisabeth Mann Borgese studierte er Meeresbiologie an der Universität Kiel. Nach dem Diplom führte seine Leidenschaft für die See zur Idee von mare: Die erste Ausgabe erschien 1997; 2001 ging die Dokumentationsreihe mareTV im NDR erstmalig auf Sendung. Seit 2002 gehören auch Bücher zum Programm des mareverlags. Nikolaus Gelpke ist Initiator des World Ocean Review, der seit 2010 jährlich erscheint. Er ist Präsident der Ocean Science and Research Foundation und des International Ocean Institute sowie Schirmherr der GAME am GEOMAR in Kiel. Außerdem ist er Mitglied im Beirat der Deutschen Umweltstiftung und im Evaluationsteam des Exzellenzclusters Ozean der Zukunft in Kiel.
Person Ein Essay von Nikolaus Gelpke
Vita Nikolaus Gelpke, 1962 in Zürich geboren, ist Verleger des mareverlags und Chefredakteur der Zeitschrift mare. Auf Anregung von Elisabeth Mann Borgese studierte er Meeresbiologie an der Universität Kiel. Nach dem Diplom führte seine Leidenschaft für die See zur Idee von mare: Die erste Ausgabe erschien 1997; 2001 ging die Dokumentationsreihe mareTV im NDR erstmalig auf Sendung. Seit 2002 gehören auch Bücher zum Programm des mareverlags. Nikolaus Gelpke ist Initiator des World Ocean Review, der seit 2010 jährlich erscheint. Er ist Präsident der Ocean Science and Research Foundation und des International Ocean Institute sowie Schirmherr der GAME am GEOMAR in Kiel. Außerdem ist er Mitglied im Beirat der Deutschen Umweltstiftung und im Evaluationsteam des Exzellenzclusters Ozean der Zukunft in Kiel.
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