Allein zwischen zwei Ozeanen

Im Boot eines 80 Jahre alten See-Nomaden in den Gewässern Indonesiens

In Topor, einer Ansammlung von sechs windigen Hütten auf Stelzen, drei Meter über einem Riff im Meer, hockt Pak Bimbu auf seiner Veranda und zeigt auf ein punktgroßes Segel am Horizont:

„Om Lahali“, sagt er und nickt mir lachend zu. Er schüttelt Salz von einem prächtigen roten Fisch in die weißen Hälften einer Mördermuschel. Um ihn herum spielen nackte Kinder. Ibu Hadidja, seine Frau, behält das sich langsam nähernde Boot, die Sope, im Auge: „Ja, Om Lahali“, sagt sie. In ihrer Stimme schwingt Freude.

Pak Bimbu ist ein Nomade des Meeres. Gemeinsam schweifen er und seine Familie über ihre nassen Weidegründe zwischen dem Indischen und dem Pazifischen Ozean. Sie passen sich den Winden an, fangen Fische und sammeln Meeresfrüchte. Die verkaufen sie an kleine chinesische Händler auf bewaldeten Inselchen. Ihr Boot ist ihr bewegliches Zuhause. Gelegentlich verbringen sie Zeit hier im Riffhaus, suchen Muscheln und Seegurken.

Jetzt ist Pak Bimbu besorgt. „Die indonesische Regierung will, dass wir ruhig auf der Stelle bleiben. Unsere Kinder sollen in die Schule gehen. Wenn wir zu weit entfernten Inseln wollen, brauchen wir Erlaubnis. Trifft man uns ohne so ein Papier an, nimmt man uns das Boot weg. Dann sitzen wir ganz fest, kriegen Kopf- und Bauchweh, und unsere Seele wird krank.“ Er steckt sich eine selbstgedrehte Zigarette an: „Schau, der Wind ist tot. Om Lahali paddelt schon. Schade. Schade. Aber macht nichts. Er hat Kraft. Trotzdem schade. Er ist schon alt.“

Das Meer ist glatt wie Glas. Bis zur Riffkante schimmert es limonengrün, hinter dem weißen Saum aus Gischt dehnt es sich weit und blau und schaukelt die Sope mit dem schlaffen Segel aus hellblauen und weißen Streifen. Pak Bimbu lacht: „Om Lahali hat sich nie gefügt. Er macht, was er will, segelt, wohin er will. Kennst du die Delphine? So ist er. So frei. So vergnügt.“

Der, der an die Delphine erinnert, muss um die achtzig Jahre alt sein. Seine Kinder und die Kinder seiner Urenkel leben überall verstreut. Einer der Söhne ist sesshaft geworden in der kleinen Stadt einer großen Insel. Der alte See-Nomade wurde auf einem Boot geboren. Niemand hat ihn je in einer Hütte schlafen oder gar leben sehen. Seine erste Frau starb, die zweite entschied sich bald nach der Heirat für ein Leben in der geselligeren Gemeinschaft eines halb sesshaften Dreihundert-Seelen-Wasserdorfes. Seit über vierzig Jahren schweift Om Lahali allein über das Meer.

Die Luft ist feucht und heiß. Sarong und Bluse kleben an der Haut. Wir sitzen im Schatten, angelehnt an die Wand der Hütte, schauen der Sope entgegen und hören den alten See-Nomaden singen. „Kami pergi, kami pergi harus bagaimana…“, klingt es zu uns herüber. Ein Lied vom Wegsegeln, davon, wie sich die Menschen dann fühlen.

„Er kommt doch gerade an“, sage ich. „Er ist immer unterwegs“, antwortet Pak Bimbu. Om Lahali steht aufrecht in seiner Sope, in der Hand die lange Bambusstange, mit der er das Boot durch das flache Riffwasser drückt. Er bückt sich nach einem Korallenblock, der an einem Tampen befestigt ist, und wirft ihn als Anker platschend in das grüne Wasser. „Kami pergi, kami harus bagaimana…“, singt er aus voller Kehle. Er zieht das weiße Auslegerkanu, das hinter der Sope hängt, zu sich heran, klettert hinein und paddelt zu uns herüber.

Auf der Veranda knacken die lose verlegten Bambusrohrlatten unter seinen nackten Füßen. Durch die Lücken hindurch sieht man unten neonbunte Fische schwimmen. Om Lahali hat einen sehnigen Körper, der aussieht, als sei er viel in Bewegung. Um die Hüften trägt er einen von Sonne und Salzwasser verblichenen Sarong. Er hat einen kurzen, dunklen Haarkranz, und in seinem beinahe faltenlosen Gesicht stoppelt ein weißer Bart. Mit fröhlichen, flinken Augen sieht er, wie es die Höflichkeit will, an der Fremden vorbei.

Er setzt sich auf den am weitesten entfernten Platz und fragt nach einer Zigarette. Pak Bimbu bringt sie ihm und füllt aus einem 40-Liter-Kanister Wasser in einen Topf. Ibu Hadidja kommt bald mit schwarzem Kaffee.

Ihr Woher und Wohin tauschen die See-Nomaden in der Sprache der Bajaus aus. Om Lahali spricht schnell und lebhaft, und seine Augen blitzen. Er verbreitet ein nicht zu erklärendes Gefühl von Weite.

Dann wechselt Pak Bimbu ins Indonesische. „Pua“, spricht der Jüngere den Älteren respektvoll an, „Mississ lebt schon lange wie die Bajaus. Wenn du es erlaubst, möchte sie dich begleiten. Sie kann mein altes Auslegerkanu nehmen.“ „Hm hm hm hm“. Om Lahali sieht die Besucherin freundlich verschmitzt zum ersten Mal an. „Ich habe noch nie mit einem Menschen gesprochen, der durch die Luft geflogen ist. Du bist doch durch die Luft geflogen?“

„Ja.“
„Warum hast du das gemacht?“
„Um die Menschen zu treffen, die immer auf dem Meer leben.“ „Hast du keine Angst vor dem Wasser?“
„Nein.“
„Sie ist früher mal um die Welt gesegelt“, wirft Ibu Hadidja ein.
Om Lahali ist irritiert.
„Hm, da habe ich sie aber nie getroffen.“
„Angst vor Wasser hat sie nicht“, sagt Pak Bimbu und spuckt zwischen die Ritzen ins Meer.
„Kannst du schwimmen?“ fragt Om Lahali weiter.
„Ja.“
„Isst du Fisch?“
„Ja.“
„Sago?“
„Ja.“
„Ich bin überrascht, dass ein Landmensch von weither kommt, um zu leben wie ein Bajau.“ Er lacht vergnügt. Er hat drei Zähne im Mund.

„Wenn wir unterwegs sind, bringe ich dich zu einer Stelle im Meer, wo der Motorfisch wohnt. Kennst du den Motorfisch?“
„Nein. Warum heißt der so?“
„Er hat die Stimme des Motors! Pt pt pt pt.“ Die drei lachen und amüsieren sich.
„Pt pt pt, so groß ist er“, sagt Pak Bimbu und zeigt zwanzig Zentimeter Luft zwischen seinen Händen.
„Unter Wasser hörst du sofort, wenn er kommt“, begeistert sich Om Lahali, trinkt seinen Kaffee aus und paddelt zurück zu seiner Sope.

Am nächsten Morgen ist er weg. Der Wind rippelt kleine Wellen in das glänzende Meer. Zwei Fliegende Fische gleiten durch die klare Luft. Sonst gibt es nichts zu sehen bis zum Horizont. Pak Bimbu sitzt am äußeren Ende seiner Veranda und hält seinen jüngsten Sohn im Arm. Sein mangogelber Sarong leuchtet in der Sonne. Ibu Hadidja schlingt einen Nylonfaden um ihren rechten großen Zeh, zieht, spannt ihn in Schulterhöhe und knotet einen Angelhaken ein. Geduldig gehen die beiden auf die ungewohnte Denkweise ihres Gastes ein.

„Ihr Bajaus seid zu höflich. Sicher konnte Om Lahali in meiner Gegenwart nicht einfach ,nein‘ sagen.“ „Mississ denkt zuviel. Er ist ein Orang-Bajau, ein „orang bebas“, ein Mensch, der frei ist“, sagt Ibu Hadidja sanft. Nachsichtig sieht sie auf mich, der es nicht gelingt, die Enttäuschung zu verbergen.

Vor die untergehende Sonne schieben sich schwarze Wolken, als Om Lahali singend seinen Anker über Bord wirft. Er ist so plötzlich zurück, wie er verschwunden war. Gut gelaunt klettert er die Leiter zur Riffhütte hinauf. Die Kinder schwingen wild in den Sarongs, die unter dem Dach aufgehängt sind. Die Erwachsenen liegen entspannt auf dem Boden und trinken schwarzen, indonesischen Kaffee mit viel Zucker. Om Lahali schmunzelt freundlich über den „orang barat“, den Westmenschen, dem die Gedanken, die er nicht ausspricht, im Gesicht geschrieben stehen.

In der Nacht braust und prasselt es um die Riffhütte. Pak Bimbu setzt die lose Tür aus Pandanus-Blättern in ihre Öffnung. „Angin barat“, Westwind, sagt er. Zusammen mit Ibu Hadidja leitet er durch eine Bambusrohrhälfte Regenwasser in einen Kanister. Durch die Ritzen in der Wand sehe ich die Sope, die sich im Wind duckt. Mit dem Getöse von Regen und Böen dringen Bruchstücke einer fröhlichen Stimme herauf. Om Lahali singt.

Im Licht des Morgengrauens, die Farben sind noch stumpf und die Wellen wieder geglättet, taucht der alte See-Nomade um sein Boot herum. Er kratzt Bewuchs am Unterwasserschiff ab. Das Boot ist aus Holz, sechs Meter lang, mit einem Dach aus Palmblättern, unter dem man hocken kann, und einem schräg nach hinten stehenden Mast. Auf den Bodenplanken liegen ein Kissen und eine geflochtene Matte. Auf drei Korallenblöcken in einer sandgefüllten Emailleschale, der Feuerstelle, steht ein rußgeschwärzter Wasserkessel. Es gibt einen Wok, einen großen Holzlöffel, einen kleinen aus Blech, ein Glas und eine Machete. Da ist ein Behälter mit Sago, dem Mark aus dem Stamm der Sagopalme, eine Dose mit Zucker und Kaffee und dünn gespaltete Holzscheite.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 5. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 5

No. 5Dezember / Januar 1997

Von Milda Drüke

Milda Drüke war im vergangenen Sommer fünf Monate bei den See-Nomaden zu Besuch. Acht Wochen davon war sie mit Om Lahali in dessen Boot unterwegs. Seit sie vor Jahren einmal in einem kleinen Schiff die Welt umsegelte, ist die freie Journalistin aus Düsseldorf, Jahrgang 1949, von der chronischen Sehnsucht geplagt, selbst auf dem Meer zu wohnen.

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Vita Milda Drüke war im vergangenen Sommer fünf Monate bei den See-Nomaden zu Besuch. Acht Wochen davon war sie mit Om Lahali in dessen Boot unterwegs. Seit sie vor Jahren einmal in einem kleinen Schiff die Welt umsegelte, ist die freie Journalistin aus Düsseldorf, Jahrgang 1949, von der chronischen Sehnsucht geplagt, selbst auf dem Meer zu wohnen.
Person Von Milda Drüke
Vita Milda Drüke war im vergangenen Sommer fünf Monate bei den See-Nomaden zu Besuch. Acht Wochen davon war sie mit Om Lahali in dessen Boot unterwegs. Seit sie vor Jahren einmal in einem kleinen Schiff die Welt umsegelte, ist die freie Journalistin aus Düsseldorf, Jahrgang 1949, von der chronischen Sehnsucht geplagt, selbst auf dem Meer zu wohnen.
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